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Fantastische Ovationen für die Solisten und den Dirigenten bei der Premiere von Händels „Ariodante“ im Bolschoi-Theater


Das Bolschoi-Theater beendet die Spielzeit mit der Premiere der Händel-Oper „Ariodante“. Wie auch bei den beiden vorangegangenen Händel-Werken („Rodelinda“ und „Alcina“) sind dies Inszenierungen westlicher Regisseure, doch im vorliegenden Fall ist dies praktisch bereits ein Museumsexponat: Die Inszenierung von David Alden kam 1993 erstmals auf die Bühnenbretter.

Diese Inszenierung der English National Opera besitzt ein erstaunliches Schicksal. Nicht nur, dass sie lange auf der eigenen Bühne lebte, sondern sie ist auch in anderen europäischen Theatern zu Gast gewesen. Und jetzt hat sie es bis nach Moskau geschafft. Wobei der Regisseur nicht seine Assistenten schickte, wie man hätte annehmen können, sondern persönlich an der Inszenierung arbeitete.

Es zeichnet sich da eine interessante Tendenz ab: Bei der offensichtlichen Aufmerksamkeit des Bolschoi-Theaters für die Barock-Oper (außer den Opern von Georg Friedrich Händel ist dies „Dido und Aeneas“ von Henry Purcell) lässt man keine einheimischen Regisseure an sie heran. Ja, und man zieht überhaupt auch eine bereits bewährte Produktion vor (alle genannten Aufführungen sind entweder eine Koproduktion oder eine Franchise). Gleiches gilt ebenfalls für die Dirigenten und Sänger. Bei den Inszenierungen arbeiten vor allem westliche Spezialisten. Aber auch Solisten des Moskauer Bolschois nehmen an der Arbeit teil. Möglicherweise zieht das Theater so durch kleine Schritte seine Spezialisten für das antike Repertoire groß.

Die Aufführung von Alden ist eine akkurate, glatte, ohne einen doppelten Boden und gedankliche „Zusätze“. Die einzige Linie, die etwas neben der Sujetlinie herausgearbeitet wurde, betrifft das zweite Paar – Dalinda und Lurcanio. Entsprechend dem Libretto stimmt Dalinda nach einigem Schwanken zu, den Antrag des in sie verliebten Lurcanio anzunehmen. Bei Alden aber bleiben im Finale zwei kontrastierende Paare zurück: die ihr Glück gefundenen Ginevra und Ariodante und die leidenden Dalinda (aufgrund des ums Leben gekommenen Polinesso, was für ein Bösewicht er auch immer gewesen sein mag) und der in sie verliebte Lurcanio. Es gibt frivole Ballettszenen. In einer von ihr erscheint der schlafenden Ginevra ein Inzest. Dies aber ist wahrscheinlich nur das Ergebnis einer krankenhaften Vorstellung des Mädchens, der Unzüchtigkeit aus ihr unverständlichen Gründen vorgeworfen wurde.

Die starke Seite der Alden-Aufführung besteht darin, dass mit der Beteiligung eines starken Ensembles – nicht nur aus der Sicht der gesanglichen Meisterschaft, sondern auch in darstellerischer Hinsicht – eine fesselnde Inszenierung herauskommt. Schließlich ist es ein Werk über Gefühle – Liebe, Eifersucht, Hinterlist, Verrat, Edelmut und Vergebung. Die Sujets des „rasenden Rolands“ (italienisch – Orlando furioso) haben innerhalb von mehreren Jahrhunderten nicht an Aktualität verloren.

Und wenn im zweiten Akt die Galerie der Figuren beginnt, die jede der Personen auf dem Höhepunkt ihrer zugespitzten Gefühle offenbart, wirst du unwahrscheinlich von Begeisterung erfasst. Und in dieser Hinsicht hatten die Zuschauer des Bolschoi-Theaters unglaublich Glück gehabt. Die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy begeisterte nicht so sehr durch eine atemberaubende Technik (obgleich schon dies genug war, um sich an der Meisterschaft der Sängerin zu begeistern), als vielmehr durch die Verzweiflungsarie, nach der ihr Held, nach dem er von der Untreue der Auserwählten erfahren hat, sich ins Meer stürzt. Der Bass-Bariton Luca Pisaroni war wunderbar — sowohl in der Figur des exzentrischen Königs als auch besonders in der Rolle des leidenden Vaters, der sich zwischen der Ehre der Krone und der Liebe zu seiner Tochter zerreißt. Hinter dem Zorn gelang es dem Künstler, ein gutes Herz zu zeigen. Ein anderer Star dieses Ensembles – der französische Countertenor Christophe Dumaux – spielte glänzend den tückischen und prinzipienlosen Dämon (Polinesso). Und seine virtuose Beherrschung der Stimme ist einfach umwerfend. Alden stellt wohl diese Figur in den Mittelpunkt der Inszenierung. Er verbringt viel Zeit auf der Bühne, wobei er die anderen Helden beobachtet, und wechselt oft die Erscheinungsformen. Folglich wird für diese Rolle wirklich ein sehr starker Darsteller gebraucht. Die Solistinnen des Bolschoi-Theaters – Albina Latipowa (Ginevra) und Jekaterina Morosowa (Dalinda) – haben sich, dies muss gesagt werden, ohne jegliche Übertreibungen in diese Besetzung gut eingefügt. Es ist offensichtlich, dass dies für Barock-Opern fertige Sängerinnen sind.

Hier muss freilich auch ein Wort zum Dirigenten gesagt werden, da, wie es scheint, dieses ganze gesangliche Märchenspiel – ein sehr schlankes und elegantes aus stilistischer Sicht (besonders hinsichtlich der russischen Sängerinnen, die ein überaus mannigfaltiges Repertoire singen) – in erster Linie sein Verdienst ist. Der Italiener Gianluca Capuano ist scheinbar für die alte Oper geboren worden. Mit ihr beschäftigt er sich auch vor allem, urteilt man anhand seiner Laufbahn, in einem Paar, wie dies oft vorkommt, mit Partituren des 20. und 21. Jahrhunderts.

„Ariodante“ hatte er übrigens vor einigen Jahren für das Salzburger Festival dirigiert. Die vierstündige Aufführung (mit zwei Pausen) – und Alden nimmt prinzipiell keine Kürzungen vor und bewahrt alle von Händel vorgeschriebenen Wiederholungen – verwandelt der Dirigent in ein Spektakel für die Ohren. So leuchtend, dynamisch und fesselnd erklingt sein Orchester. Delikat fügt er die Schlaginstrumente hinzu – von überraschenden Paukenschlägen bis hin zu zarten Glöckchen. Jede Arie gestaltet er wie ein Dramaturg, so, dass nicht eine Wiederholung als eine unnötige oder (wie dies leider vorkommt) langweilige erscheint. Und im Rahmen des markierten Affekts findet er ein Spektrum von Halbtönen. Am besten spricht der „Buschfunk“ über die Qualität der Aufführung. Für die letzte Aufführung von „Ariodante“ in der zu Ende gehenden Spielzeit des Bolschoi-Theaters (am 27. Juli) waren die verbliebenen Eintrittskarte mit einem Schlage ausverkauft.