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Russland und Putin heute – eine Einschätzung für morgen


In einem viel beachteten Beitrag schreibt Chefredakteur Konstantin Remtschukow am 20.November 2019 in der Nesawissimaja Gaseta über interessante unterschiedliche, aber auch im Detail durchaus sehr wahrscheinliche Szenarien der weiteren Entwicklung Russlands in den kommenden Jahren und welche Ausgangspunkte für mögliche Veränderungen  heute bestehen. (http://www.ng.ru/politic/2019-11-20/1_7730_main.html)

Nach Remtschukow,  glaubt Staatspräsident Putin selbst keineswegs an Garantien für sich selbst und für die weitere Entwicklung im Land. Er geht dabei von einer ganz persönlichen und individuellen angeborenen Verhaltensweise des Menschens unter dem  Zwang der gegenwärtigen Umstände aus. Für die Analyse der wahrscheinlichsten Szenarien der künftigen russischen Entwicklung ist es deshalb zum ersten notwendig, von den Motiven und dem Potential der an der Macht bleiben wollenden Hauptpersonen der heutigen politischen Elite, auszugehen; zum zweiten aber auch von den Forderungen der wichtigsten politischen Institutionen für eine mögliche Änderung, beziehungsweise . Bewahrung der heutigen Ordnung.  An dritter Stelle steht dabei die Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Probleme, hauptsächlich unter Beachtung einer möglichen Lösung durch die gegenwärtigen Institutionen und ihrer Praktiken. Zum vierten sind die alternativen oppositionellen Programme für eine Umwandlung der Verhältnisse in Russland und natürlich auch die weitere Entwicklung der Stimmung bezüglich eines möglichen politischen Machtwechsels oder aber auch der Bewahrung der Staatsführung unter den verschiedenen sozialen Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Zum fünften, braucht man  eine Analyse der Entwicklung der Stimmung in der Bevölkerung in bezug auf die Bewahrung oder Wechsel in der Staatsführung unter verschiedenen großen sozialen Gruppen.

Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Situation sieht  Putin in der Gegenwart heute jedoch keinen Nachfolger, der seine persönlichen, in der Öffentlichkeit  vertretenen Kriterien, wie Bescheidenheit, Liberalismus im Alltag und Patriotismus nach außen, Treue an die professionelle Kaste und  Flexibilität bei internationalen Verhandlungen, erfüllen würde. Sein Nachfolger müsste zwischen unterschiedlichen Auffassungen — ohne zu ermüden und sich reizen zu lassen — vermitteln können und ein fanatischer  Arbeiter in seinen Verhandlungen sein. Putin selbst macht sich heute Sorgen, dass er seine Freunde nicht schützen könnte, wenn er nicht mehr am Staatssteuer steht. Gleichzeitig fühlt er sich aber auch der unmittelbar unter seiner Führung arbeitenden russischen Führungselite überlegen und bezieht den möglichen Verrat seiner Mitarbeiter unter dem Druck der Umstände und der Opposition in seine Überlegungen mit ein. Es wäre für ihn irrational  zu glauben, dass diese Personen in einen so komplizierten und mit Problemen belastetes Russland weiter bestimmen könnten.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die herrschende Einschätzung einzelner Personen der russischen Führung, wie z.B. des Minis-terpräsidenten Medwedew, der durch mangelndes Interesse an der Arbeit, fehlende Entscheidungen und  Neigung zu zweifelhaften Initiativen, wie der Reform der Winterzeit, der viertägigen Arbeitswoche oder die Propaganda des Federballspiels charakterisiert wird. Medwedew hat keine eigene Beamtenmannschaft und prinzipiell zum engen Kreis der Beamten um Putin gehört.  Für die Vorsitzende des Russischen Föderationsrates, Walentina Matwijenko, sind durch Besonderheiten ihrer dienstlichen Laufbahn bedingte fehlende Ideen und Zynismus charakteristisch. Der Sprecher der Staatduma, Wjatscheslaw Wolodin, der sich auf alle Gegebenheiten einstellen kann, wird vor allem durch seine persönliche, uneingeschränkte Treue gegenüber Putin charakterisiert,. Für den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu ist  sein fehlender Elan typisch. Ohne größere Anstrengungen für einen weiteren Aufstieg, wartet er auf sein Rentnerdasein. Die mögliche Funktion eines für die Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens zuständigen Ersten Stellvertreters des Ministerpräsidenten könnte ihm eine höhere Rente einbringen. Außenminister Lawrow hat ähnliche Bestrebungen, die nur Putin erfüllen kann. Sein maximaler Wunsch wäre der Posten des Vorsitzenden des Föderativen Rates. Hervorzuheben ist auch das Moskauer Stadtoberhaupt Sergei Sobjanin, der nach außen hin wenig Interesse an öffentlicher Politik zeigt. Er demonstriert Gleichgültigkeit gegenüber hohen Posten und fürchtet nichts und niemanden. Selbst Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates Russlands, Alexander Bortnikow, FSB-Chef und andere Vertreter    der Justiz und des Polizeidienstes, zeigen keine eigene öffentliche Position und sichern die Funktion ihrer Behörden im Putins Machtsystem.  Das betrifft auch die Präsidentenadministration mit ihren Führungskräften Waino, Kirienko, Gromow, Peskow und Belousow, die mit  hoher Wahrscheinlichkeit möglichen neuen Leuten aus anderen niedrigen Verwaltungskreisen entgegenstehen. Das allgemeine geringe Vertrauensniveau in der russischen Gesellschaft könnte den radikale Elitenwechsel für Schlüsselentscheidungen im Staat beeinflussen und sorgt dafür, dass die heutigen Eliten alles tun werden, um die Herrschaft Putins für eine uneingeschränkte lange Frist zu erhalten.

Putin ist seinerseits an dem Erhalt dieser Kaderstruktur interessiert, weil ihm nur ihre Stabilität erlaubt, seine umfassenden Machtaufgaben effektiv zu lösen. Mögliche Unsicherheiten könnten für Putin- sicherlich schwer-fallende- Kaderänderungen unter seinen Kampfgenossen erfordern. Unter Umständen wäre eine Verschlechterung der statistischen und soziolgischen Indikatoren für den  aktuellen Zustand der russischen Gesellschaft und ihrer Wirtschaft Auslöser für entsprechende Veränderungen.