Wie erwartet wird, nimmt Präsident Wladimir Putin gemäß einer Tradition den Rat für Menschenrechtsfragen am 10. Dezember zusammen. Dieses Mal beabsichtigen die Menschenrechtler, mit dem Staatsoberhaupt solche drängenden Probleme wie die Versuche, „Memorial“ zu liquidieren, das Gesetz über die „ausländischen Agenten“ und die Foltern in Russlands Strafvollzugseinrichtungen zu erörtern. Solch eine Agenda wird heute in der Gesellschaft diskutiert, diese Themen bewegen die Menschen.
Im Chor der Stimmen, die über die Gewalt gegenüber Häftlingen sowie die Versuche, die Redefreiheit zu unterdrücken und dem Volk die Erinnerungen an die Repressalien der totalitären Epoche zu nehmen, empört sind, ist die Stimme der Russischen orthodoxen Kirche nicht zu vernehmen. Keine einzelnen ihrer Vertreter, von deren Äußerungen man sich dann distanzieren kann, wobei man sie als deren persönliche Meinung deklariert, und auch nicht das, was als konziliarische (gemeinschaftliche) Meinung des Klerus und angesehener Gläubiger bezeichnet wird.
Man hat sich schon an den Moskauer Patriarchen mit der Frage nach diesem erstaunlichen Schweigen gewandt. Aber dies ist eine vereinzelte Anfrage. Es scheint, dass es schon keiner für notwendig erachtet, sich die Frage zu stellen, wieso die Kirche, die bereit ist, sich lautstark zu empören, wenn sie in irgendetwas eine Verletzung ihrer Privilegien ausmacht, imstande ist, hartnäckig dazu zu schweigen, was die Vorstellung gewöhnlicher Menschen erschüttert.
Es versetzt in Erstaunen, wie Geistliche, sozusagen Christen von Berufung und vom Dienst her, in der Lage sind, sich gelassen Aufnahmen anzuschauen, auf denen ein nackter Mensch auf einem Bett liegt, mit Laken an dieses gefesselt, mit ausgestreckten Armen, buchstäblich ein Gekreuzigter. In kirchlichen Foren, von hohen Kanzeln aus und in christlich-orthodoxen Sendungen versetzt man die Spießbürger mit europäischen Gay-Paraden in Angst und Schrecken. Dabei lässt aber die abstoßende, gewaltsame Sodomie auf einem dreckigen Fußboden in einer U-Haftanstalt die Kirchenvertreter gleichgültig.
Seitdem die Videos über Foltern im russischen Strafvollzug aufgetaucht sind, hat man dem Moskauer Patriarchat nicht wenige konkrete Fragen gestellt. Hingewiesen wurde auf die Auszeichnungen der Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug mit Kirchenorden, die mit den Strafvollzugseinrichtungen zu tun haben, die eine traurige Berühmtheit erlangt haben, darauf, dass es in dem Folter-Krankenhaus eine orthodoxe Gefängniskirche gibt. Als Antwort erklang die unsichere Zusage, die Auszeichnungen abzuerkennen, wenn die „Helden“ als Verbrecher anerkannt werden. Bisher ist nichts über eine Aberkennung von Orden bekanntgeworden.
Die Russische orthodoxe Kirche setzt die Arbeit zur Verewigung des Andenkens an die auf dem Butowo-Gelände Moskaus erschossenen tausenden Menschen fort, wobei sie sich zwecks Hilfe an Freiwillige wendet. Zur gleichen schaut die Kirche gleichgültig darauf, wie man die Gesellschaft „Memorial“ auf den Untergang vorbereitet, die allein durch ihre Existenz das Streben symbolisiert, die Erinnerungen an die Schrecken der massenhaften Repressionen zu bewahren. Als Ende der 1980er Jahre „Memorial“ geschaffen wurde, hatte keinen geringen Beitrag zur Glorifizierung der Märtyrer die gläubige Intelligenzija geleistet, die die nach einem langen staatlichen Joch wiederauferstandene Kirche aufs Schild gehoben hatte.
Als KPRF-Chef Gennadij Sjuganow dieser Tage Metropolit Hilarion (Alfejew – Leiter der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen der Russischen orthodoxen Kirche) in absentia eines Undanks in Bezug auf Stalin bezichtigte, hatte der nichts zu erwidern. Der 55jährige, also nach dem Tode Stalins geborene Metropolit äußerte die Annahme, dass der Leichnam von Lenin früher oder später aus dem Mausoleum auf dem Moskauer Roten Platz gebracht werde. Der KP-Chef erinnerte aber den Hierarchen daran, dass Stalin die Russische orthodoxe Kirche „erschaffen hätte“. Die Mehrheit des Klerus steht der kommunistischen Diktatur negativ gegenüber. Ihr fällt es jedoch schwer einzugestehen, dass die Entscheidung, die überlebenden Kirchenvertreter aus den Lagern zurückzuholen, vom Führer, vom Generalissimus unter dem Druck der Christen der USA und Großbritannien, den Verbündeten aus der Antihitler-Koalition, getroffen worden war. Was ist dies denn jetzt – einzugestehen, dass die Gläubigen der UdSSR, die beinahe zu Lagerstaub verwandelt wurden, dank einem westlichen Lobbyieren gerettet wurden? Dies ist unmöglich, denn eines Lobbyierens fremder Interessen bezichtigt man doch jene, die man heute einem nach dem anderen als „ausländische Agenten“ abstempelt.
Die Russische orthodoxe Kirche hat das Grämen – einen alten Brauch, sich für Verfolgte einzusetzen – vergessen. Das beredte Schweigen ist möglicherweise auch für eine Selbstbewahrung nützlich, nimmt aber der Kirche das Recht, sich als das Gewissen der Nation zu bezeichnen. Und löst sogar Zweifel an den Ansprüchen auf die Rolle der größten gesellschaftlichen Organisation, die Menschen verschiedener Überzeugungen vereint, aus. Denn die geistlichen Mentoren, die die göttlichen Wahrheiten predigen, bekunden keine elementare Menschlichkeit.