Die wichtigste politische Realität des zu Ende gehenden Jahres ist die radikale Säuberung des politischen Feldes in Russland. Alexej Nawalny war freiwillig ins Land zurückgekehrt, ungeachtet der offiziellen Warnung der Offiziellen hinsichtlich einer unweigerlichen Verhaftung. Entweder hatte er mit einem nie dagewesenen Protest der Massen gerechnet oder einfach einen Fehler begangen oder bewusst die Linie eines Märtyrertums mit der Perspektive des präsidialen Status eines nationalen moralischen Führers vom Typ eines Vaclav Havels gewählt.
Den Mitstreitern Nawalnys hatte man erlaubt, das Land zu verlassen. Obgleich man sie auch nicht hätte gehen lassen können. Dies muss man im Blick haben, wenn wir vom Grad des Blutdurstes der Herrschenden sprechen. Übrigens, keiner der Nawalny-Vertreter wollte einsitzen, wobei man sich dort, im Westen für nützlicher hielt. Es hat sich herausgestellt, dass es nur für Nawalny nützlich ist einzusitzen. So sind die Menschen…
Die Herrschenden triumphieren und sind vom eigenen Recht überzeugt. Likes im Internet werden in einen realen Protest mit einem gewaltigen nach unten drückenden Koeffizienten konvertiert. Aber unter der Bedingung einer Sperrung des YouTube-Service verschwinden für die meisten Bürger die Likes als eine Waffe des Protests. Die Perspektiven seien, wie man heute gewöhnlich sagt, recht erfreuliche.
In die Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) sind die profillosen „Neuen Leute“ mit einem unverständlichen Ziel und einem unklaren politischen Potenzial eingezogen. Was für eine Gesetzgebung wollen denn diese „Neuen Leute“? Für die Interessen welcher gerade „neuen Leute“ sind sie? Und wie sieht es da mit den „alten“ aus?
Die Wirtschaft und die Einkommen sind rein statistisch gewachsen, die Inflationsrate aber absolut spürbar. Der Anstieg der Lebensmittelpreise hat die Geldbörsen der Bürger wesentlich geleert und die Offiziellen traurig gestimmt, bis an den Rand eines Erschreckens. Sie griffen zu „Helikopter“-Zahlungen für die sozial anfälligen Bevölkerungsschichten. Damit haben sie sowohl die Aufgabe zur Gewährung von Hilfe als auch die Aufgabe zur Anhebung der Realeinkommen laut Rosstat-Daten (Russlands offizielles Statistikamt – Anmerkung der Redaktion) gelöst.
Einmalige Auszahlungen als eine Methode zur Erhöhung der Einkommen sind aus taktischer Sicht gut. Jedoch haben sie leider nichts mit einer Lösung der strategischen Aufgabe zu tun, der zur Schaffung von Millionen von Arbeitsplätzen mit einer höheren Produktivität und folglich auch einem höheren Lohn.
Einerseits hat sich die Gesellschaft scheinbar an ein Leben unter Pandemiebedingungen angepasst, andererseits hat sich die Sterblichkeit innerhalb eines Jahres verdoppelt. Es ist zum Heulen traurig… Der deprimierend geringe Enthusiasmus der Massen in Bezug auf die Vakzinierungsfrage und das delikate Verhalten der Offiziellen in den Fragen einer Nötigung der Menschen zu Impfungen haben das ureigene Wesen des heutigen Russlands mit seinem Konservatismus, Aberglauben, Argwohn und seiner Rücksichtslosigkeit offenbart.
Es ist offensichtlich, dass Putin sein Volk auf irgendeiner besonderen, irrationalen, alltäglichen, unpolitischen, Hinterhof- und nonverbalen Ebene spürt. Solange solch ein Gefühl lebendig ist, ist er unbesiegbar. Dies betrifft die Frage nach der Dauer von Putins Verbleiben an der Macht. Ohne Illusionen. Ein Mensch auf dem Gipfel realer Macht lässt sich selten von Hirngespinsten und Vorstellungen leiten, die für Schwärmer und Romantiker aus dem Internet charakteristisch sind.
Zum Jahresende hat Putin den Dialog mit dem Westen verschärft, indem er seine Version von den nationalen strategischen Interessen Russlands zwecks Erörterung mit den USA und der NATO vorlegt. Diese Interessen sehen wie die berüchtigten „roten Linien“ aus, von denen man im Jahr 2021 oft gesprochen hat. Man hat oft über sie gesprochen, aber keiner hatte sich entschieden, diese Linien aufzuzeichnen. Putin hat sich dazu entschlossen.
Ungeachtet des offensichtlich egoistischen Charakters unserer geopolitischen Interessen in der Version Putins scheint es, dass es dank dieser „neuen Aufrichtigkeit“ zu einem Durchbruch in den Verhandlungen mit den USA kommen wird. Biden liebt Konkretheit. Zumal an die Stelle einer Welt ohne Grenzen eine Welt von Sanktionsrestriktionen und der geopolitischen Interessen aller großen Mächte, vor allem der USA, Chinas und Russlands, tritt.
Derart sind die Realitäten der internationalen Beziehungen der Epoche des Kalten Krieges. Übrigens, Moskau und Peking sind sich derzeit näher als vor einem Jahr.
Das Jahr 2022 wird zu einer Zeit der Anpassung der Welt an die neue Realität – mit wiedergeborenen Grenzen, einem Schüren des Wettrüstens und dem zaghaften Ausloten gegenseitiger Kompromisse.
Ich wünsche all unseren Lesern Gesundheit und Wohlergehen im neuen Jahr!