Kein “Kalter Krieg”, aber ein Krieg der Sanktionen Sanktionen und Gegensanktionen dürften die Politik von und gegenüber Russland auf lange Zeit massgeblich bestimmen.
Vor fast genau vier Jahren begann die Weltgemeinschaft Sanktionen gegen
Russland zu verhängen. Dabei handelte es sich zunächst um eher harmlose,
unsystematische Massnahmen – der Rückgang des Ölpreises im Jahr 2014 traf die
russische Wirtschaft beispielsweise ungleich stärker. Derzeit erleben wir aber
eine systematische Verschärfung der Sanktionen durch neue und zunehmend
rigidere Massnahmen, die die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Russland
und dem Westen auf absehbare Zeit ebenso bestimmen werden wie die Situation
in Russland selbst – das mag uns gefallen oder nicht. Es ist daher wichtig, diese
über Sanktionen geführte Auseinandersetzung sowohl in ihrer Logik als auch in
ihren künftigen Auswirkungen auf die beteiligten Parteien zu verstehen.
Die russische Führung war von Anfang an überzeugt, dass bereits das erste
Sanktionsregime für lange Zeit in Kraft bleiben würde, unter Umständen sogar für
Jahrzehnte. Anlässlich eines Treffens mit Vladimir Putin im Jahr 2015 gab Alexeij
Ulyukayev, der damals Minister für Wirtschaftsentwicklung war und heute im Gefängnis
sitzt, die Prognose ab, dass die Sanktionen nicht vor 2018 aufgehoben werden würden.
Wie mehrere Teilnehmer desselben Treffens berichteten, rechnete Putin selbst sogar
nicht mit einem Ende der Sanktionen vor dem Jahr 2028. Trotzdem hat es Russland in
den vergangenen vier Jahren nicht nur verpasst, sich systematisch auf die Verhängung
neuer Sanktionen einzustellen, es hat auch keine klare Strategie entwickelt, wie es auf
die Reaktionen reagieren soll und deren Folgen eindämmen kann.
Es ist eine inoffizielle Gruppe von Leuten aus Putins innerem Kreis (vornehmlich
Vertreter der russischen Wirtschaftselite), die nach einer jeden neuen Runde von
Sanktionen jeweils Mittel und Wege suchen, um den drohenden sozio-ökonomischen
Absturz des Landes zu verhindern. So ist es denn die langfristige Verschlechterung der
Wirtschaft, in der die russische Regierung die wirklich ernstzunehmende Gefahr des
Sanktionsdrucks sieht.
Gestützt auf diverse Umfragen zur allgemeinen Befindlichkeit sowie auf die Ergebnisse
der jüngsten Präsidentenwahlen, erachtet Putins Regierung das derzeitige
Wohlstandsniveau der Bevölkerung als mehrheitlich zufriedenstellend und die
Einstellung der Bürger zu ihrem Präsidenten als loyal. Für die Mehrheit der Russen
scheint ein kontinuierlicher, wenn auch langsamer Verlust an Realeinkommen noch
immer das kleinere Übel zu sein als eine — womöglich abrupte — Änderung der politischen
Lage des Landes.
Infolgedessen zieht es die russische Regierung vor, einfach abzuwarten. Für den
Moment ist diese Haltung nicht von Nachteil, da noch immer keine Sanktionen in Kraft
sind, die die russische Wirtschaft tatsächlich unter Druck setzen könnten. Entgegen der
landläufigen Meinung glauben viele (russische wie westliche) Experten auch nicht
daran, dass direkte Massnahmen gegen die Oligarchen aus Putins innerem Kreis,
namentlich die Beschlagnahmung von privaten Vermögen, irgendeine Wirkung zeigen
würden. Vielmehr würden derartige Massnahmen nur zu einer weiteren Umverteilung
von Eigentum zugunsten einer kleinen Clique um Putin führen.
Ein typisches Beispiel dafür war “RUSAL”: als das Finanzministerium der USA die Firma
auf ihre schwarze Liste setzte, schürte das zwar Ängste unter russischen
Geschäftsleuten, doch die Regierung zeigte sich nicht besonders beunruhigt. Das liegt
daran, dass der Schaden bei RUSAL auch im ungünstigsten Fall (d.h. bei Verlust von
Marktzugängen, steilem Rückgang der Produktion oder der Schliessung von Fabriken)
auf höchstens ein paar hunderttausend Leute (nämlich Fabrikarbeiter und deren
Familien) begrenzt bliebe. Angesichts der beträchtlichen Reserven, über die die
Regierung verfügt, wäre eine solche Entwicklung zwar nicht wünschenswert, aber auch
nicht gefährlich.
Ganz andere Auswirkungen hätte es indessen, wenn die grössten staatseigenen Banken
auf die “schwarze Liste” gesetzt würden. Ein solcher Schritt könnte zu einer akuten
Finanzkrise, einem beträchtlichen Kurssturz des Rubels, dem Zusammenbruch vieler
Banken, dem Verlust der Ersparnisse eines Grossteils der Bevölkerung und einer
allgemeinen, langfristigen Phase finanzieller Instabilität führen. Käme es dazu, könnte
sich die öffentliche Meinung sehr rasch radikal ändern. Im Gegensatz zu einem Öl- und
Gasembargo scheinen Sanktionen gegen staatseigene Banken auch nicht ausgeschlossen,
da das russische Bankensystem klein und nicht besonders gut in das weltweite
Bankensystem integriert ist.
Das zweite Szenario, das zu einer plötzlichen Krise führen könnte, leitet sich nicht aus
den Sanktionen gegen Russland selbst ab, sondern aus einer möglichen Reaktion
Russlands auf die Sanktionen. In Putins Umfeld gibt es eine äusserst und zunehmend
einflussreiche Gruppe, die für einen völligen Abbruch der Beziehungen mit der
Aussenwelt eintritt und stattdessen zu einer Strategie der «belagerten Festung»
übergehen möchte. Diese Gruppe namens «Siloviki», der hauptsächlich Politiker mit
Verbindungen zum Militär und den Sicherheitsdiensten (und ohne riesige Vermögen im
In- oder Ausland) angehören, sieht in der Strategie der «belagerten Festung» vor allem
eine Gelegenheit, ihren Einfluss im Land massiv auszubauen. Darüberhinaus glauben
Vertreter dieser Gruppe tatsächlich, dass Russland auch in kompletter Isolation von der
äusseren Welt existieren könnte. Die «Siloviki» könnten irgendwann erreichen, dass
Gegensanktionen in Form von Vermögensenteignungen westlicher Unternehmen
verhängt werden, auf die der Westen wiederum mit zusätzlich verschärften
Massnahmen reagieren müsste. Dass das noch nicht geschehen ist, heisst nicht, dass es
nicht noch geschehen wird: Es sei nochmals daran erinnert, dass Russland keine
langfristige Strategie für den Umgang mit Sanktionen entwickelt hat; russische
Massnahmen waren bislang oft spontan und weniger das Resultat eines ausgereiften
Plans.
Dieses zweite Szenario ist zudem auch wahrscheinlicher als das erste. So entschlossen
die europäischen Kräfte auch sein mögen, hat doch niemand ein Interesse daran, die
russische Wirtschaft ins Chaos zu stürzen; darum drängt es sich im Moment nicht gerade
auf, staatseigene Banken direkt anzugreifen.
Falls hingegen keine der beiden Seiten etwas unternimmt, was zu einem der eben
beschriebenen Szenarien führen würde, ist mit einem schleppenden und
langandauernden Prozess wechselseitiger Sanktionen zu rechnen. Die Folgen wären
zwar nicht katastrophal, doch wären westliche Geschäftsleute sowie Kultur- und
Bildungseinrichtungen, die in Russland tätig sein wollen,
zu erhöhtem
Risikomanagement gezwungen; denn die Bedingungen, um mit und in Russland