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Putins Vorstellungen als eine geopolitische Realität


Vier Monate nach Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine wird etwas in den Motiven und Ursachen für ihre Durchführung klar. Anderes bleibt nach wie vor diffus und zweideutig. Vervollständigt wird das Bild durch die Reaktion auf das Geschehen seitens Staats- und Regierungschefs anderer Länder oder Staatengruppierungen.

Die G7 beispielsweise und die EU verfolgen die Linie einer Deklassierung von Putins Russland als eine unweigerliche Folge des Ukraine-Konflikts mit einem Setzen auf einen militärischen Sieg. Die BRICS-Länder sind ihrerseits durchaus loyal gegenüber Putin und Russland und beschränken sich auf allgemeine, recht abstrakte Erklärungen zugunsten einer friedlichen Lösung aller Probleme und einem Akzentuieren der Zusammenarbeit.

Die russischen Herrschenden sind durch die neutrale Loyalität der großen Länder der sich entwickelnden Welt gebilligt worden und propagieren auf jegliche Art und Weise das Thema von einem größeren Wachstumstempo der BRICS-Länder im Vergleich zur G7, wobei sie (bewusst) zu erwähnen vergessen, dass die Russische Föderation sowohl den einen als auch den anderen hinsichtlich des Entwicklungstempos nachsteht. Und die Realeinkommen der Bevölkerung unseres Landes steigen überhaupt nicht bereits seit zehn Jahren.

Dies ist eines der erstaunlichsten Phänomene des Putinschen Russlands. Im Verlauf eines ganzen Jahrzehnts (!) demonstrieren die Herrschenden die völlige Unfähigkeit, einen Anstieg der persönlichen Einkommen der Bürger zu sichern. Und die bemerken scheinbar nicht solch ein Detail ihres Daseins und unterstützen weiterhin mit Enthusiasmus eben diese Herrschenden in all ihren Handlungen. Einschließlich der sehr kostenaufwendigen.

Allem nach zu urteilen wird das spärliche Wachstum des BIP in den nächsten Jahren für eine Wiederherstellung der Infrastruktur und des Wohnraumfonds der Territorien des Donbass und möglicherweise auch anderer Gebiete der heutigen Ukraine eingesetzt werden, die im Ergebnis erbitterter Gefechte gelitten haben – vom Typ Mariupol oder Cherson.

Derjenige, der die Geisteshaltung des russischen Volkes begreift, verfügt über unermesslich mehr Freiheit für ein politisches Handeln als jene, die sie nicht verstehen und sich von einem Wishful Thinking (einem Wunschdenken) leiten lassen.

Diese Erwägungen scheinen wichtige zu sein, da heutzutage die Hauptauseinandersetzung in der Welt ein Kampf von Narrativen ist. Narrative ersetzen einerseits das reale Bild, andererseits prägen sie die Bewertung des Erfolgs. Und drittens beeinflussen sie die Motive von Taten der Anhänger des einen oder anderen Narrativ. Sei es der Präsident irgendeines europäischen Landes oder ein aufgeladener russischer Hipster. Schon ganz zu schweigen von den einfachen Kämpfern des Propaganda-Krieges.

Man kann so viel wie möglich von einem „Dilettantentum“ russischer Kommandeure und dem ungeahnten „Talent“ ukrainischer Offiziere reden. Jeder Tag bringt jedoch Nachrichten eines Typs (da außer offiziellen Informationsquellen andere in Russland einfach nicht genutzt werden dürfen, oder man wird strafrechtlich verfolgt – Anmerkung der Redaktion): Die russischen Truppen verdrängen die ukrainischen Opponenten aus allen Objekten, die im russischen Generalstab für eine Einnahme vorgesehen wurden.

Jede Meldung über einen (angeblichen) Sieg russischer Truppen übt eine beinahe zerstörerische Wirkung auf die politischen Gegner aus, wobei der emotionale Background des oppositionellen Widerstands untergraben wird. Von solchen fähigen Jungs wie Arestowitsch (Alexej Arestowitsch ist Berater des ukrainischen Präsidenten, Blogger, Schauspieler sowie politischer und militärischer Kolumnist – Anmerkung der Redaktion), die das Gesicht zu wahren verstehen, gibt es wenige.

Der Kampf der Narrative beeinflusst stark die Erwartungen.

Jetzt sind alle Blicke auf „unseren geliebten August“ ausgerichtet, den Monat der traditionellen (eine Zäsur setzenden) Ereignisse in der heutigen russischen Geschichte. Im August ereigneten sich sowohl der Default als auch das „Kursk“-Unglück, sowohl der zweite Tschetschenien-Krieg als auch Putins Ernennung zum Premier mit der anschließenden Präsidentschaft…

Unter den Bedingungen der aufgeladenen Erwartung des Publikums und vor dem Hintergrund der Aufstockung von Lieferungen schwerer Waffen und anderer Waffen aus den Ländern der NATO formiert das Ukraine-Narrativ die Erwartung einer grundlegenden Wende im Verlauf der Militäroperation. Das russische Narrativ aber erweitert die Ambitionen von einer „Verteidigung des Volkes des Donbass“ bis zu einer impliziten, aber möglichen Bewegung in Richtung Odessa, Charkow und letzten Endes Kiews.

Allem nach zu urteilen, behält Putin weiterhin die Kontrolle über die dominierenden Emotionen der Bürger Russlands. Was auch die Grundlage seines Ratings bildet. Und das Rating veranlasst zu neuen kühnen Plänen. Derart ist die Realität. Oder das Narrativ von der Realität…

Solange Putin die genetische Verbindung mit seiner Mehrheit bewahrt, wird er unaufhaltbar bei der realen Umsetzung der eigenen geistigen Konstruktionen für die Welt sein. Putins Vorstellungen sind eine geopolitische Realität. Und eine innenpolitische ebenso.