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Die liberale Opposition bleibt in der Selbstisolierung


Laut Informationen der „NG“ hat bisher keiner der Demokraten ernsthaft die Möglichkeit der Durchführung von Protestaktionen gegen die Verfassungsänderungen erörtert. Wobei sowohl die Verfechter einer Protestabstimmung beim Plebiszit am 1. Juli als auch die Anhänger eines Boykotts Solidarität hinsichtlich der Ablehnung von Straßenaktionen demonstrieren. Sie beabsichtigen, in der Selbstisolierung zu bleiben, wobei sie dies mit der Gefahr einer erneuten Coronavirus-Welle begründen. Unter den linken Kräften herrscht dagegen die einhellige Meinung vor, dass Straßenaktivitäten notwendig seien, natürlich vor allem mit sozial-ökonomischen Losungen. 

Am 20. Juni planen die Kommunisten eine Allrussische Aktion zum Schutz der sozial-ökonomischen Rechte der Bürger. Dies teilte der stellvertretende Vorsitzende des ZK der KPRF, Wladimir Kaschin, bei einer Tagung des Stabs für Protestaktionen mit. Zuvor hatte die Kommunistische Partei auf eine Protestabstimmung im Verlauf des Verfassungsplebiszites gesetzt (siehe Printausgabe der „NG“ vom 07.06.20).

Wie der Chef der „Linken Front“, Sergej Udalzow, gegenüber der „NG“ erläuterte, sei bei der Tagung des Stabs für Protestaktionen bekanntgegeben worden, dass auch das Thema der Verfassungsänderungen bei der Aktion am 20. Juni angesprochen werde. Dabei teilte Udalzow mit, dass sowohl in Moskau als auch in Petersburg bereits Schwierigkeiten hinsichtlich der Abstimmung der Aktionen aufgetreten seien, obgleich die sanitär-hygienischen Einschränkungen dort entweder schon oder in der nächsten Zeit aufgehoben werden. Die Kommunisten diskutieren also verschiedene Protestformate. „Es wurde beschlossen, dass wir bis zuletzt versuchen werden, uns mit dem Bürgermeisteramt über ein Meeting zu einigen. Wenn man es aber untersagt, wird es Treffen mit Wählern und einzelne Mahnwachen geben.“ 

Udalzow schloss nicht aus, dass seine Bewegung auch eigene Meetings organisieren könne, zum Beispiel am 27. oder 28. Juni. Er ist gleichfalls der Auffassung, dass im äußersten Falle das Einreichen von Benachrichtigungen für Meetings am 2. oder 4. Juli möglich sei, das heißt zu den Ergebnissen der gesamtrussischen Abstimmung, um sie in Zweifel zu ziehen. 

Die rechtesten Kräfte aber demonstrieren, wie die „NG“ feststellte, keinen Enthusiasmus hinsichtlich eines Auf-die-Straßen-gehen. Obgleich Alexej Nawalny auf Twitter scheinbar auch andeutete, dass nach der Parade am 24. Juni in Moskau „wir uns alle am Samstag, den 27. Juni bei einem Meeting gegen ein Resetting der Amtszeiten Putins treffen können“. Das Büromitglied der Jabloko-Partei, Boris Wischnewskij, teilte der „NG“ mit, dass die Parteiführung einen Aktionsplan zur Propagierung der Position hinsichtlich der Änderungen bereits in den nächsten Tagen erörtern werde. „Natürlich, wenn wir sehen, dass die epidemiologische Situation, die gegenwärtig keinen Optimismus suggeriert, es dennoch zulässt und der Protest in legale Bahnen zurückkehrt, könnten wir theoretisch eine Protestaktion vorschlagen. Vorerst aber halten wir es nicht für möglich, die Bürger zu Massenaktionen aufzurufen und nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch den Erhalt von Strafen oder Festnahmen zu riskieren. Daher schließen wir die Durchführung einer Aktion, zum Beispiel am 27. Juni aus und denken, dass in zwei Wochen ein neuer Anstieg der Erkrankungen möglich ist“, erklärte er.

Der Vorsitzende der Libertarianischen Partei, Sergej Boiko, betonte, dass sie bisher keine Klarheit hinsichtlich der Taktik hätten. Die Meinungen der Aktivisten würden auseinandergehen. Und sie seien bereit, Meetings lediglich im Falle einer Aufhebung aller Beschränkungen zu veranstalten. Die Vorsitzende von „Offenes Russland“ (OR), Anastasia Burakowa, sagte gegenüber der „NG“, dass am 8. Juni bei einer Sitzung des Rates der Bewegung die Entscheidung gefällt worden sei, offiziell die Kampagne „Nein!“ zu unterstützen. Aber um Meetings zu organisieren, betonte sie, gebe es vorerst keine Möglichkeit sowohl aufgrund der Epidemie und des Risikos für die Bürger als auch aufgrund der durch die Behörden verhängten Restriktionen. 

Die hauptstädtische kommunale Abgeordnete Julia Galjamina – eine der Führungskräfte der Kampagne „Nein!“ – erläuterte der „NG“, dass gegenwärtig die Möglichkeit von Massenaktion nicht einmal diskutiert worden sei. Wenn sich aber nach einer gewissen Zeit die Situation ändere, könne man auch einen Antrag für ein Meeting einreichen. Übrigens, nach Meinung von J. Galjamina, seien die Worte Nawalnys über ein Meeting am 27. Juni ein „Scherz“ gewesen. Der Exekutivdirektor von PARNAS, Roman Jefremow, betonte, dass der föderale politische Rat der Partei die Taktik für die Führung einer Boykottkampagne zur Abstimmung am 1. Juli diskutiere. Das Einreichen von Anträgen für Meetings in der Zukunft schloss er nicht aus. Der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, Konstantin Merslikin, erklärte er jedoch gegenüber der „NG“: „Öffentliche Aktionen unter den Bedingungen der Pandemie sind eine Gefahr für die Bürger. Die offiziellen Angaben, die offenkundig untertrieben sind, lösen keinen Optimismus aus. Vorerst werden wir sicher die Kampagne im Internet veranstalten“.

Der 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, Alexej Makarkin, ist der Annahme, dass die Liberalen objektive Befürchtungen hinsichtlich der Sicherheit der Menschen haben. Doch es „bestehe auch das Verständnis dafür, dass die Straßenaktivität momentan keine hohe wird“. Die Linken hätten sich schon an vergleichsweise kleine Protestaktionen gewöhnt. Doch „von den Liberalen erwarten alle eine Wiederholung der Bolotnaja-Ereignisse (vom 6. Mai 2012, als es beim sogenannten „Marsch der Millionen“ zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften kam – Anmerkung der Redaktion) oder der Erfolge des vergangenen Jahres, als am 10. August 60.000 Menschen auf dem Sacharow-Prospekt zusammengekommen waren“. Folglich werde das Kommen von 2000 bis 3000 Menschen als eine Pleite gewertet. Dabei betonte der Experte, dass solch eine Position der Demokraten natürlich nicht damit zusammenhänge, dass sie in keiner Weise aus der Selbstisolierung herauskommen können. „Sie demonstrieren Aktivität. Es gab sogar Festnahmen bei Einzel-Mahnwachen. Also wären zu der Veranstaltung der Demokraten nicht weniger Menschen gekommen als zu den kommunistischen Meetings. Die Demokraten fürchten aber Debakel – ein Scheitern der ganzen Kampagne gegen die Abstimmung am 1. Juli. Daher werden sie die Aktionen wohl am ehesten bis zu den Herbstwahlen vertagen“, mutmaßte Makarkin.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe, Konstantin Kalatschjow, erinnerte die „NG“ daran, dass „die Rechten im Unterschied zu den Linken nicht auf die Wahlen als ein Instrument zum Erhalt von Unterstützung seitens der Wähler setzen, wenn nur nicht die Bedingungen auf maximale Weise günstige werden“. Die Kommunisten aber hätten sich halt daran gewöhnt, für eine Erweiterung der Präsenz zu kämpfen. Sie hätten bereits von der Tatsache her sowohl die gegenwärtige als auch die bevorstehende Duma-Kampagne begonnen. Der Experte nimmt an, dass die Motive der Rechten für den Verzicht auf Proteste wohl am ehesten verschiedene seien: „Jabloko wird augenscheinlich auf den Versuch setzen, sich mit den Regierenden zu einigen. Wenn sie sich also nicht auf einen offenen Kampf einlassen, wird man ihnen bei den Duma-Wahlen 3 Prozent geben. PARNAS erholt sich in keiner Weise von der Niederlage im Jahr 2016 und vertraut den Wählern nicht. OR appelliert an die verbreiteten liberalen Stimmungen. Aber gerade die Menschen dieser Anschauungen fürchten sich derzeit vor allem davor, sich anzustecken“. Wie Kalatschjow unterstrich, habe sich das ganze Land schon in Covid-Rückversicherer, deren Meinung auch die Rechten artikulieren, und in Covid-Skeptiker – diese Meinung herrscht unter den Linken vor – geteilt. „Und jetzt haben gerade die Covid-Skeptiker günstige Bedingungen für eine Zunahme der Unterstützung. Wenngleich aber die Rechten meinen, dass sie keine Möglichkeit haben, die Protestwelle in Griff zu bekommen, so irren sie sich tatsächlich“, erklärte der Experte.