Vor dem Hintergrund der Positionsgefechte bereiten sich Moskau und Kiew scheinbar auf langwierige Winter-Verteidigungskampagnen vor. Sie werden sich von den bisherigen Gefechtshandlungen unterscheiden. Für die Ukraine wird dies offensichtlich mit Schritten zur Deckung des Mangels an Energieressourcen, mit einer Mobilmachung und zur Beherrschung der neuen Waffen, die von ihren westlichen Verbündeten kommen, zusammenhängen. Für die Russische Föderation – mit einem Akkumulieren von Offensivpotenzial und der Vorbereitung strategischer Verteidigungslinien bereits auf dem eigenen Territorium.
Wenn die USA und die NATO beschließen, die Streitkräfte der Ukraine mit Kampfflugzeugen, operativ-taktischen Raketen, modernen Luftverteidigungsmitteln und anderen hochpräzisen Waffen (die Russland laut Aussagen des Verteidigungsministeriums bereits acht Monate gegen die Ukraine einsetzt – Anmerkung der Redaktion) zu versorgen, werden die militärischen Vorteile Moskaus faktisch nivelliert werden.
In den sozialen Netzwerken und Medien hat sich heute der Umfang der Informationen über die Situation im Bereich der Kampfhandlungen erheblich verringert. Dabei sind Militärexperten und Politiker über die Situation besorgt, die sich im Gebiet Cherson und den Regionen der Russischen Föderation, die an das ukrainische Verwaltungsgebiet Charkow angrenzen, ergibt. Angestellt werden Prognosen über eine mögliche Aufgabe von Cherson durch die russischen Truppen und ihre gesamte Verlegung auf das östliche Dnepr-Ufer. Dabei erfolgen Verweise auf eine Erklärung des Befehlshabers der Vereinigten Gruppierung der russischen Truppen im Bereich der Durchführung der militärischen Sonderoperation, Armeegeneral Sergej Surowikin, der vor einer Woche erklärt hatte, dass möglicherweise „schwere Entscheidungen“ getroffen werden müssten. Am Samstag hatten die von Moskau eingesetzten Offiziellen des Gebietes Cherson mitgeteilt, dass „alle Zivilisten von Cherson unverzüglich die Stadt verlassen und aufs linke Dnepr-Ufer übergesetzt werden müssen“.
Der russische Journalist und Abgeordnete des Moskauer Stadtparlaments Andrej Medwedjew (hat viele Jahre als Militärjournalist für das russische Staatsfernsehen gearbeitet – Anmerkung der Redaktion) unterstreicht: „Wenn Entscheidungen über ein vollkommenes Verlassen des rechten (Dnepr-) Ufers getroffen werden, so hoffe ich, dass alle Konsequenzen dieses Schrittes vorab, für Jahre im Voraus berechnet werden. Sowohl die militärischen als auch innenpolitischen. Den russischen Menschen wird man sehr detailliert und mehrfach die Motive der Entscheidung erklären müssen. Territorien kann man zurückholen. Schwieriger ist es, das Vertrauen der Menschen zurückzuerlangen“.
Der einstige Abgeordnete der Werchowna Rada (2002-2014) und bekannte Politiker Oleg Zarjow berichtete unter Berufung auf „angesehene Freunde“ aus Cherson, dass dort „alle vor Ort sind. Keiner möchte und plane zurückzuweichen“. Dabei schrieb der stellvertretende Administrationschef der Region Kirill Stremousow in seinem Telegram-Kanal, dass an den Fronten des Verwaltungsgebietes Cherson „alles ohne Veränderungen“ sei. Ungeachtet der ständigen Versuche der ukrainischen Truppen, die Verteidigungslinien zu durchbrechen, würden die verbündeten Truppen alle Attacken abwehren. Die ukrainischen Streitkräfte würden sehr große Verluste an Menschen und Technik erleiden.
Derweil weist man in der Experten-Community und in den Medien auf die sich häufenden Schläge der ukrainischen Streitkräfte gegen das russische Territorium, insbesondere gegen die Verwaltungsgebiete Belgorod und Kursk, hin. Der Militärjournalist vom russischen Staatsfernsehen und Militärexperte Alexander Sladkow macht sich darüber Sorgen, dass man Belgorod fünf Tage beschossen habe. „Am ersten Tag – 100 Raketen. 95 sind abgefangen worden. Die Luftverteidigung im Gebiet Belgorod ist lobenswert. Eine ukrainische Antiradar-Rakete hat den Flughafen von Belgorod getroffen (seit dem 24. Februar ist dieser geschlossen – Anmerkung der Redaktion). Die letzten zwei Tage war es relativ still. In Schebekino aber sind drei Einkaufszentren getroffen worden, eins von ihnen, der Stolz der Stadt – (das Einkaufszentrum) „Zerkalny“, ist niedergebrannt. Eine Trafostation und ein Punkt zur Fernwärmeversorgung sind getroffen worden. Ein 14jähriger Junge ist ums Leben gekommen. Er saß in einem Auto, hatte auf die Eltern gewartet“, schreibt Sladkow auf Telegram (wobei er sich auch nur auf Informationen anderer Quellen beruft – Anmerkung der Redaktion).
„Es ergibt sich die Frage: Warum lassen die russischen Truppen einen großangelegten Beschuss des Territoriums der Russischen Föderation seitens der ukrainischen Streitkräfte zu?“. Laut Angaben des 56jährigen Militärkorrespondenten seien die Panzer der ukrainischen Streitkräfte bei Schebekino vorgefahren und hätten die russischen Ziele direkt, aus nächster Nähe beschossen. „Die Reichweite eines direkten Beschusses von Panzern beträgt ca. zwei Kilometer. Ist der Feind etwa so nah an unsere Grenzen herangekommen? Das heißt: Die Sonderoperation der Russischen Föderation geht fließend auf ureigen russische Territorien über?“, fragt sich der Militärexperte und Generalleutnant im Ruhestand Jurij Netkatschjow. Nach seiner Meinung müsse „das Verteidigungsministerium die Verantwortung tragen, jene Kommandeure, die es nicht verstanden haben, die relativ vor kurzem erfolgte Offensive der ukrainischen Streitkräfte im Verwaltungsgebiet Charkow aufzuhalten. Und jetzt befinden sich Kampfeinheiten der ukrainischen Streitkräfte in unmittelbarer Nähe zu unseren Grenzen“.
Vor diesem Hintergrund sehen die Meldungen überhaupt nicht erfreulich aus, dass Moskau im Donbass und im Verwaltungsgebiet Belgorod eine Verteidigungslinie vorbereite, die man in den Medien als „Wagner-Linie“ bezeichnete. Es sei daran erinnert, dass man als „Maginot-Linie“ ein aus einer Linie von Bunkern bestehendes Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien bezeichnete. Das System, benannt nach dem französischen Kriegsminister André Maginot, wurde mit einer Länge von 400 Kilometern und einer Tiefe von bis zu zwölf Kilometern von 1930 bis 1940 gebaut. Die „Wagner-Linie“ sieht bescheidener aus. Sie besteht aus spitzzulaufenden dreieckigen Beton-Blöcken und tiefen Panzer-Sperrgräben. Ihre Länge macht bisher mehrere dutzend Kilometer im Gebiet Belgorod und im Donbass aus. Der bekannte Geschäftsmann Jewgenij Prigoschin, der die private Söldner-Firma „Wagner“ kontrolliert, hatte er klärt, dass ihre Einheiten „ausgehend von der operativen Lage und den eigenen Plänen Befestigungsanlagen errichten“. Er teilte gleichfalls mit, dass sein Unternehmen auch eine Volks- bzw. Bürgerwehr auf dem Territorium des Verwaltungsgebietes Belgorod schaffen werde. Nach seinen Worten „stellen mehrere Unternehmen im Gebiet notwendige Elemente für die Fortifikationsanlagen her“. Sie würden für Verteidigungszwecke auf dem Territorium der Russischen Föderation geschaffen und nicht entsprechend den geografischen Grenzen Russlands und des Donbass verlaufen. Sie (die Wagner-Linie) verläuft beispielsweise entsprechend dem Fluss Nördlicher Donez (Sewerskij Donez), „da eine gestaffelte Verteidigung vorgesehen ist. Andere Details offenzulegen, halten wir für unzweckmäßig“, betonte Prigoschin. Derweil berichtete der Gouverneur des Gebietes Kursk, Roman Starowoit, auch über zwei neue Verteidigungslinien in seinem Verwaltungsgebiet. Nach seinen Aussagen, die die Moskauer Nachrichtenagentur „Interfax“ übermittelte, „wird noch eine Linie geschaffen und bis zum 5. November bereit sein“. Starowoit betonte, dass „die Arbeit zusammen mit dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation und der Grenzverwaltung des FSB Russlands für das Verwaltungsgebiet Kursk erfolgte“.
Die „Wagner-Linie“ werde im Falle einer Offensive des Gegners erlauben, den Ansturm von Gruppierungen, die um das 10fache die Zahl der Verteidiger übertreffen, aufzuhalten, meinen Experten. „Summiert man diese Angaben, kann man sagen, dass die russische Führung eine weitere Offensive von Verbänden der ukrainischen Streitkräfte gegen das Territorium der Russischen Föderation einräumt. Und da müssen die Truppen der Russischen Föderation – ob sie nun wollen oder nicht – zu einer langwierigen strategischen Verteidigung gegenüber dem Gegner übergehen. Was dann sein wird – die Zeit wird es zeigen“, meint Netkatschjow.