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Deutsche „Overton-Fenster“


Zum Herbstende hin ereignete sich in Deutschlands Militärpolitik eine interessante Wende. Dieser Tage stellte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ den Inhalt eines neuen geheimen Dokuments des Bundesverteidigungsministeriums vor (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-vertrauliches-strategiepapier-sieht-staerkung-der-kampfkraft-vor-a-daa2482e-c68f-4781-bb0a-50a6ad4b3408). In den „Operativen Leitlinien für die Streitkräfte“ sei angeblich eine Konzeption für strategische Entscheidungen der Bundeswehr im Falle eines direkten militärischen Konflikts mit Russland vorgestellt worden. Man kann sich darüber streiten, ob dies ein echtes Dokument oder das geplante Streuen bestimmter Informationen in den Massenmedien ist. Unbestritten ist etwas anderes: In Deutschland erörtert man als Diskussionen über einen möglichen militärischen Konflikt mit Russland Projekte für eine Wiederherstellung mächtiger Streitkräfte und eines starken Militär-Industrie-Komplexes.

Ein Konflikt mit Russland war stets in der militär-strategischen Planung Deutschlands präsent, zumal das Land ein Mitglied der NATO bleibt. Jetzt jedoch vollzieht ein anderer Prozess. Die Bundesregierung und die Öffentlichkeit diskutieren die Frage nach einer Verwandlung Deutschlands in eine Militärmacht unter dem Vorwand der Schaffung einer Stütze für die NATO gegen Russland. Wenn sich dieser Plan als ein erfolgreicher erweist, wird die Welt erstmals nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ein aus militärischer Sicht mächtiges Deutschland zu sehen bekommen.

In der Politikwissenschaft existiert der Begriff „Overton-Fenster“ (benannt nach Joseph P. Overton (1960–2003), einem US-amerikanischen Anwalt und ehemaligen Vizepräsidenten des Mackinac Center for Public Policy – Anmerkung der Redaktion). Es handelt sich dabei um Grenzen bzw. den Rahmen an Ideen, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden. Diese Grenzen kann man vorsichtig, ohne Eile ändern. Die deutsche Gesellschaft hat in den vergangenen 75 Jahren den Boden für einen künftigen Wiederaufbau Deutschlands als eine Großmacht (wobei potenziell einer militärischer) bereitet. Mit diesem Ziel wurden bereits vier „Overton-Fenster“ geöffnet. Und jetzt beginnt, sich in Deutschland möglicherweise ein fünftes zu öffnen.

Das erste „Overton-Fenster“ öffnete man in der BRD bereits in der zweiten Hälfte der 1950er. Gerade damals hatte sich in der westdeutschen Historiografie über den Zweiten Weltkrieg eine Unterscheidung in die verbrecherische Führung des Reichs und der SS einerseits und die „ehrliche Wehrmacht“ andererseits herausgebildet. Die ersten waren die Schuldigen für die Kriegsverbrechen und des Genozids, die anderen – edle Militärs, die beinahe die Zivilbevölkerung vor dem Terror der SS gerettet hatten. Dafür hatte es Rechtsgrundlagen gegeben: Der Nürnberger Prozess hatte die Wehrmacht und den deutschen Generalstab nicht als kriminelle Organisationen anerkannt, und die deutsche Generalität trat hauptsächlich als Zeuge der Verbrechen auf. Etwa zum Jahr 1960 entstand das Genre der Memoiren deutscher Heerführer, die den Krieg als ein Set fesselnder strategischer Rätsel im Geiste des Schachspiels betrachteten.

Das zweite „Overtone-Fenster“ wurde ungefähr zu Beginn der 1970er geöffnet. Die bundesdeutsche Historiografie hatte bereitwillig die These des US-amerikanischen Politologen Immanuel Wallerstein (1930-2019) aufgegriffen, wonach der Erste und der Zweite Weltkrieg ein einziger entweder Zweiter oder Dritter 30jähriger Krieg gewesen seien (nach dem 30jährigen Krieg von 1618-1648 und der Kriege der Französischen Revolution von 1789-1815). Damals seien die Grundlagen für diesen Krieg (den Zweiten Weltkrieg) nicht 1933 gelegt worden, sondern 1870, als Preußen das Deutsche Reich schuf. In solch einem Fall aber waren Westdeutschland und Mitteldeutschland an sich zwangsweise zu „Reichen“ vereint worden – sozusagen durch ein nicht ganz deutsches Preußen, dessen Könige Verwandte russischer Zaren gewesen waren und gen Sankt Petersburg und nicht nach Paris und London blickten.

Damals waren die Geschichten des Zweiten und des Dritten Reichs die Geschichte nicht von Deutschland, sondern von Preußen, dass bereits seit 1947 nicht mehr auf der Landkarte Europas existiert. Und die Deutschen vom Rhein und aus Bayern hatten sich stets als Europäer empfunden und selbst durch das Preußen-Imperium gelitten, das ihnen den Kult des Militanten aufoktroyiert und sie zu gezwungen hatte, Krieg zu führen. Nach der Verlegung der Hauptstadt ins preußische Berlin fanden die Deutschen einen eleganten Ausweg: Berlin und die einstige DDR – dies sind ja Brandenburg und Sachsen. Das gefährliche Preußen aber – dies sind Königsberg, Malbork (das einstige Marienburg – Anmerkung der Redaktion) und Tilsit (heute: Sowjetsk), die nach wie vor außerhalb Deutschlands liegen und zwischen Russland und Polen aufgeteilt wurden. So wurde das Negative der deutschen Geschichte unbemerkt in das bereits nicht mehr existierende Preußen abgeschoben, und die neue liberale BRD – dies sei bereits etwas anderes.

Das dritte „Overton-Fenster“ öffnete die radikale antikommunistische Kampagne in unserem Land und in Osteuropa in der Perestroika-Ära. Aus Berlin sah diese ganze Kampagne gegen die KPdSU und den Kommunismus ganz anders als aus Moskau aus. Während der Stalinismus oder umso mehr die Oktoberrevolution das größte Übel der Weltgeschichte waren, so könne man auch die Nationalsozialisten teilweise verstehen. Sogar der herausragende deutsche Historiker Ernst Nolte (1923-2016) hatte den Gedanken in Umlauf gebracht, dass der Nazismus in Vielem als eine Antwort auf den Bolschewismus und der Furcht vor dem roten Terror eines Bürgerkrieges geboren wurde. Noch weiter gingen österreichische und deutsche Historiker von der Art eines Ernst Topitsch (1919-2003) und Joachim Hoffmann (1930-2002), die unaufdringlich daran erinnerten, dass „letzten Endes nur das Dritte Reich einen Krieg gegen den Stalinismus geführt hatte“. Ihre Ideen wurden vorerst in Deutschland als radikale angesehen. Aber ein Vorlauf war geschaffen worden: Respektable Wissenschaftler können auch in solchen Kategorien Gedanken anstellen.

Das antikommunistische „Overton-Fenster“ weist eine perspektivreiche Richtung auf. Die Grenzen in Osteuropa waren auf der Grundlage von Abkommen Stalins mit dem Premier Großbritanniens und dem Präsidenten der USA festgelegt worden. Aber wenn der Stalinismus „verbrecherisch“ ist, so besitzt beispielsweise Polen legitim die vier einstigen deutschen Provinzen Schlesien, Posen (Poznan), Vorpommern und den westlichen Teil von Ostpreußen? Und besitzt Litauen legitim das deutsche Memel, das zum litauischen Klaipeda wurde? Das Europa-Parlament diskutiert seit langem und votiert für eine gleiche Verantwortung Stalins und Hitlers für den Krieg. Aber man kann dies auch als einen rechtlichen Vorlauf für eine Revision der Grenzen auffassen, die für die einstigen sozialistischen Länder 1945-1946 festgelegt worden waren.

Das vierte „Overton-Fenster“ öffnete Deutschlands Beteiligung an kollektiven Militäroperationen der NATO. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte 1990 garantiert, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen werde. Deutsche Streitkräfte haben aber im einstigen Jugoslawien und Afghanistan – recht weit von den Grenzen Deutschlands entfernt – agiert. Irgendwie hatte sich von selbst der Diskurs ergeben, dass die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den Verbündeten permanent auf fremdem Territorium kämpft. Heute kämpft deutsche Militärtechnik gegen russische auf dem Territorium der früheren UdSSR. Eine Rückkehr Deutschlands in dessen traditionellen Interessenssphären (die im Übrigen durch das Zweite Reich abgesteckt worden waren) ist, stellt sich heraus, durchaus möglich, wenn sie im Format einer liberalen Ideologie und zusammen mit den westlichen Verbünden erfolgt.

Heute tut sich in Deutschland ein fünftes „Overton-Fenster“ auf. „Ein direkter Konflikt an der Nato-Ostflanke wird wieder wahrscheinlicher. Deutschland muss in Europa eine Vorreiterrolle einnehmen und seine Streitkräfte robuster aufstellen“, wird in dem 68 Seiten umfassenden Grundsatzpapier ausgewiesen, dass durch den Bundeswehr- Generalinspekteur, General Eberhard Zorn, unterschrieben wurde.

Man kann das Dokument in Zweifel stellen. Jedoch sagen aber dies offen auch die Spitzenvertreter der BRD einschließlich Kanzler Olaf Scholz. Deutschland müsse eine starke Armee als eine Stütze für die Ostflanke der NATO schaffen. Vorerst als eine Stütze für die EU und die westliche Welt. Aber wer hat gesagt, dass dieses „Overton-Fenster“ das letzte sein werde?