Die russische Gesellschaft, die durch die unerfreulichen Meldungen von der Frontlinie in der Zeit der Herbst-Gegenoffensive der ukrainischen Truppen müde geworden ist, geht dem heranrückenden 1. Jahrestag der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine mit der Erwartung von Veränderungen zum Besseren entgegen. Die Kunde von der Ernennung des Generalstabschefs und 1. Stellvertreter des Verteidigungsministers der Russischen Föderation, Valerij Gerassimow, zum Befehlshaber der Truppengruppierung in der Zone der Sonderoperation wird als ein Omen für den möglichen Übergang der russischen Armee von einem Positionskampf zu einer entschlossenen Offensive wahrgenommen.
Die Erwartung entbehrt keiner Grundlagen nach den Erklärungen des russischen Verteidigungsministeriums und der Söldnerfirma „Wagner“ vom 13./14. Januar über die Befreiung von Soledar und der operativen Einkesselung von Artjomowsk (Bachmut). Die Entfernung zwischen diesen Städten beträgt zehn Kilometer. Ein Durchbrechen der Verteidigungslinie des Gegners über solch eine Länge schafft Bedingungen für einen Einsatz der strategischen Reserve im Rahmen der Gefechte. Als diese wirken die Verbände, die durch 300.000 Reservisten aufgefüllt worden sind, die seit Ende September gemäß der Teilmobilmachung einberufen wurden und bis zum heutigen Zeitpunkt eine Gefechtsausbildung absolvierten.
Der Gegner hat bereits spürbare Verluste erlitten (100.000 Mann nach Aussagen der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen; lt. inoffiziellen Schätzungen – bis zu 300.000 Tote und Verwundete) und weicht nicht nur im Donbass zurück, sondern auch im Gebiet Saporoschje. In Kiew hat man die Aufgabe der Ortschaften Mirnoje und Doroschnjanka eingestanden.
Die ukrainischen Truppen haben einen Großteil der Technik sowjetischer Bauart verloren, aber westliche Hilfe mobilisiert und warten auf sie. Bis zum Frühjahr haben die USA und die BRD einhundert Schützenpanzer vom Typ „Bradley“ und „Marder“ zugesagt, Frankreich – zehn Radpanzer AMX-10RC, Großbritannien – zehn „Challenger-2“ sowie Polen, Finnland und Deutschland bis zu 40 „Leopard“-Panzer. Washington kann auch 1000 gepanzerte Fahrzeuge übergeben, die auf dem Seeweg in die Niederlande gebracht wurden, was bei einer Konferenz der NATO erörtert werden kann.
Dies provoziert Moskau: Es sei besser, den geschwächten Gegner zu zerschlagen, solange die westliche Hilfe nicht eingetroffen ist. Wiederaufgenommen wurden die Luftangriffe gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine: Explosionen waren in Kiew, Charkow, Saporoschje und Otschakow zu vernehmen. Vor diesem Hintergrund erklangen die Informationen von Wladimir Rogow, einem Mitarbeiter der russischen Verwaltung des Gebietes Saporoschje, wonach in Sankt Petersburg „entschieden wird, … entsprechend welchem Szenario die Sonderoperation weiter durchgeführt wird“, neugierig machend. Und der ständige Vertreter Russlands in den Vereinten Nationen in New York, Wassilij Nebensja, erklärte bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates, dass Russlands Ziele eine Beendigung der Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine und eine Beseitigung jeglicher Bedrohung seitens Kiews seien, wobei sie auf dem Wege von Verhandlungen erreicht werden könnten.
Wird Moskau einen militärischen oder friedlichen Weg wählen? Es wird ihm wohl kaum ein Einfrieren des Konflikts an der faktischen Frontlinie recht sein. Befreit werden müssen mindestens alle Gebiete der sogenannten „neuen Territorien der Russischen Föderation“. Aber nach einer Verdrängung der ukrainischen Streitkräfte bis auf eine ordentliche Entfernung von Donezk ist schwerlich eine vollkommene Beendigung des Artilleriebeschusses von Wohn- und Industrievierteln zu erwarten (während sich Moskau dieses Recht hinsichtlich solcher Viertel auf dem ukrainischen Territorium gewährt – Anmerkung der Redaktion). Schließlich wurden allein in den 36 Stunden der gescheiterten Weihnachtsfeuerpause 160 Geschosse der Kaliber 120 bis 300 Millimeter gegen die Stadt abgefeuert.
Mit der Entscheidung vom 11. Januar hat Verteidigungsminister Sergej Schoigu nicht bloß den Befehlshaber der agierenden Armee ausgewechselt. Mit der Ernennung von Valerij Gerassimow wurden gleichzeitig seine Stellvertreter ernannt (Sergej Surowikin, Oleg Saljukow und Alexej Kim). Dem war nicht so, als man am 8. Oktober Surowikin zum Chef der Truppen in der Konfliktzone ernannte. Das Verteidigungsministerium erläuterte: Die personellen Veränderungen würden mit der Ausdehnung des Maßstabs der im Verlauf der militärischen Sonderoperation zu lösenden Aufgaben zusammenhängen. Und mit der Notwendigkeit, ein engeres Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Waffengattungen und Truppen zu organisieren. Schoigu signalisierte gleichfalls die Bereitschaft der Luft- und Kosmos-Streitkräfte (die von Surowikin befehligt werden – Anmerkung der Redaktion) zu aktiveren Handlungen.
Kurzum, Russlands Militärs bereiten sich ernsthaft vor, die Kampfhandlungen nicht zurückzufahren, sondern fortzusetzen. Gerassimow hat genug Zeit, damit die Siegesparade dieses Jahres in Moskau mit einem besonderen, einem neuen Sinn erfolgt.