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„Wagner“-Chef Prigoschin will Handtuch werfen


Die „militärische Sonderoperation“, deren Beginn am 24. Februar vergangenen Jahres durch Russlands Präsidenten Wladimir Putin befohlen wurde, überschattet die Vorbereitungen zum Tag des Sieges. In zahlreichen russischen Städten sind die Paraden für den 9. Mai abgesagt worden. Das Verteidigungsministerium hält sich bedeckt, was für Technik in Moskau auf dem Roten Platz am kommenden Dienstag gezeigt wird. Überdies ist die Massenaktion „Unsterbliches Regiment“, an der in früheren Jahren stets hunderttausende Menschen mit Bildern ihrer Angehörigen, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft hatten, teilnahmen, ins Internet verlegt worden. Als Grund wurde und wird stets die Sicherheitslage genannt, da in den letzten Wochen die ukrainischen Drohnen-Attacken massiv zugenommen haben. Freilich ist aber auch nicht auszuschließen, dass viele Bürger des Landes mit Porträts von im Ukraine-Krieg gefallenen Männern auf die Straßen gekommen wären. Und dies vor dem Hintergrund dessen, dass seit Herbst letzten Jahres keine offiziellen Zahlen über Gefallene und Verwundete auf russischer Seite vorgelegt worden sind.

Der Ukraine-Krieg, der in den 15. Monat gekommen ist, läuft für den Kreml nicht wie geplant. Nachdem dies lange ein Tabu-Thema für die Öffentlichkeit gewesen war, haben im Grunde ab Ende vergangenen Jahres die Diskussionen über die Ursachen dafür begonnen. Befeuert wurden sie dabei unter anderem durch Jewgenij Prigoschin, der auch als „Putins Koch“ bekannt ist. Der 61jährige Chef und Gründer der Söldner-Firma „Wagner“ nahm nie ein Blatt vor den Mund, wenn er die Militärführung des Landes wegen Misserfolgen an der Front kritisierte. Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Valerij Gerassimow sieht er dabei als ein Sinnbild für die Militärbürokratie, die auch seinen Männern das Leben schwer mache. Nicht erst in diesen Tagen beklagte Prigoschin einen Mangel an Munition für seine Armee, die vor allem an den schwierigsten Frontabschnitten im Einsatz ist und laut Experten Riesenverluste an Man-Power einstecken musste (als Indiz wird dabei immer wieder auf die zahlreichen „Wagner“-Friedhöfe im Putin-Reich verwiesen). Etwa 300 Tonnen Munition täglich würden die Söldner von Prigoschin benötigen. Jedoch hätten seinen Worten zufolge die Probleme diesbezüglich vor allem Systemcharakter. Besonders spürbar wurde dies in Bachmut, das die russische Seite seit Monaten in äußerst verlustreichen Gefechten zu erobern sucht. In der einst etwa 70.000 Einwohner zählenden Stadt im Donbass agieren gegenwärtig vorrangig „Wagner“-Kämpfer, die selbst nach westlichen Einschätzungen recht effizient vorgehen und daher die ukrainischen Militärs arg in Bedrängnis brachten. Deren Widerstand und ausbleibende Erfolge der russischen Seite (womit letztlich die Einnahme der Stadt gemeint ist) nötigten nun Jewgenij Prigoschin, die Notbremse zu ziehen. Er hat es satt, dass die Militärführung Russlands die Kämpfe seiner Männer torpediert. Offensichtlich hat sie künstlich die Munitionsprobleme für die „Wagner“-Leute provoziert, zumal deren erfolgreicher Einsatz die regulären Truppen in den Schatten stellt. Selbst wenn aus dem russischen Verteidigungsministerium erklärt wird, es gebe keine Nachschubprobleme bei Geschossen und anderer Munition, bezweifeln dies manche Beobachter, die meinen: Schoigu & Co. gefalle der zunehmende Einfluss von Prigoschin einfach nicht. Solche Art von Machtkämpfen zermürben. Wohl daher auch die düsteren Prognosen von vor etwa fünf Tagen, dass „Wagner“ zu existieren aufhören werde. „Wir nähern uns einem Punkt, an dem „Wagner“ enden wird“, erklärte der gebürtige Petersburger in einem Interview mit dem russischen Militärblogger Semjon Pegow.

Und am 5. Mai verkündete er den Beschluss, dass seine Armee einen Rückzug aus Bachmut am 10. Mai beginnen werde. Ob es eine endgültige Entscheidung ist oder ob Prigoschin pokert, steht auf einem anderen Blatt. Kremlsprecher Dmitrij Peskow vermied es am Freitag, sowohl das entsprechende Statement des „Putin-Kochs“ als auch ein zuvor veröffentlichtes Video zu kommentieren. In dem wetterte Prigoschin: „Schoigu, Gerassimow, wo, verdammte Scheiße, ist die Munition?“. Aufgenommen war dieses spektakuläre Video vor Leichen angeblicher „Wagner“-Kämpfer.

Im Nachfolgenden veröffentlicht „NG Deutschland“ den Wortlaut des Prigoschin-Statements in einer deutschsprachigen Fassung, das erlaubt, in etwa dem Gedankengang vom Chef der Söldner-Firma „Wagner“ zu folgen.

 

„Appell von Jewgenij Prigoschin, des Kommandos und der Kämpfer der Privaten Militärfirma (PMF) „Wagner“ an den Generalstabchef, den Verteidigungsminister, den Obersten Kommandieren und das Volk Russlands:

 

  1. Am 16. März war uns angetragen worden, unverzüglich an der Verteidigung unserer Heimat teilzunehmen.
  2. Am 19. März 2022 waren alle Einheiten von unterschiedlichen Richtungen aus Afrika angereist und nahmen das erste Gefecht auf.
  3. Wir haten eigenständig die Richtung unserer Offensive ausgewählt – das am besten vorbereitete befestigte Gebiet der Streitkräfte der Ukraine.
  4. Am 9. Mai 2022 nahmen wir die Ortschaft Popasnaja ein, womit wir den ersten bedeutsamen Sieg im Donbass erzielten.
  5. Nach einer Serie von Misserfolgen des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation an unterschiedlichen Frontabschnitten, wurde am 8. Oktober 2022 zusammen mit Armeegeneral Surowikin die Entscheidung über die Durchführung der Operation „Fleischwolf von Bachmut“ getroffen.
  6. Die Operation „Fleischwolf von Bachmut“ demonstrierte ihre höchste Effektivität, lenkte eine gewaltige Anzahl von Kräften des Gegners ab und verschaffte der russischen Armee die Möglichkeit, vorteilhafte Verteidigungslinie einzunehmen und die Offensive fortzusetzen.
  7. Im September-Oktober 2022, während der Flucht von Einheiten des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation aus Krasny Liman, Isjum und Balakleja, hatten die Einheiten der PMF „Wagner“ bei Kremennaja dem Ansturm des Gegners standgehalten, wobei sie eine Verteidigungslinie mit einer Länge von 132 Kilometern, aber auch eine zweite gestaffelte Verteidigungslinie mit einer Länge von 207 Kilometern eingenommen hatten.
  8. Nach diesen Ereignissen waren die Einheiten der PMF „Wagner“ in die Ungnade neidischer, aus dem Umfeld der Militärs kommender Bürokraten gefallen. Es begann ein künstlicher Munitionsmangel. Unternommen wurde der Versuch des Schaffens eines künstlichen Personalmangels.
  9. Bis zum 9. Mai 2023 sollten wir Bachmut einnehmen. Aber im Wissen darum haben ab dem 1. Mai uns die Bürokraten aus dem Umfeld der Militärs praktisch von jeglichen Vorräten an Artilleriemunition abgeschnitten.
  10. Die Einheiten des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, die dafür bestimmt sind, unsere Flanken abzusichern, halten sie mit Mühen. Die genannte Zahl der Man-Power unterscheidet sich stark von der realen. Es kommt zum Ausweisen frisierter Zahlen: anstelle von zehntausender – dutzende und selten hunderte Kämpfer.
  11. Die Angriffsressourcen der PMF „Wagner“ sind bereits Anfang April ausgegangen. Aber wir greifen an, ungeachtet dessen, dass die Kräfte des Gegners uns um das 5fache überlegen sind. Und dies bei den Normen von einem Minimum einer dreifachen Überlegenheit, die wir bei einer Offensive unsererseits haben müssten.
  12. Aufgrund des Ausbleibens von Munition nehmen unsere Verluste mit jedem Tag mit einer geometrischen Progression zu.
  13. Ungeachtet dessen hat der Rat der Kommandeure der PMF „Wagner“ die Entscheidung getroffen, die Positionen zu halten und die Offensive auf Bachmut bis zum 10. Mai 2023 fortzusetzen, um den für Russlands Bürger heiligen Feiertag – den 9. Mai, den Tag des Sieges – mit einem Glänzen der russischen Waffen zu begehen.
  14. Ich wende mich offiziell an den Generalstabschef, an den Verteidigungsminister, den Obersten Kommandierenden und das Volk Russlands. Ich erkläre im Namen der Kämpfer der PMF „Wagner“, im Namen des Kommandos der PMF „Wagner“, dass wir am 10. Mai 2023 gezwungen sind, die Positionen in der Ortschaft Bachmut an die Einheiten des Verteidigungsministeriums zu übergeben und die Reste der PMF „Bachmut“ in Lager im Hinterland zu überführen, um die Wunden zu heilen. Ich ziehe die Einheiten der PMF „Wagner“ aus Bachmut ab, da sie bei einem Ausbleiben von Munition zu einem sinnlosen Tod verdammt sind.
  15. Ich melde mich offen zu Wort, da nicht ein einziges meiner Schreiben behandelt wurde. Ich habe über alle Probleme beginnend ab dem 19. März 2022 Berichte vorgelegt.
  16. Der Verteidigungsminister erklärte in dieser Woche, dass es mehr als genug Munition gebe. Der Mangel an Geschossen für die PMF „Wagner“ macht 90 Prozent aus.
  17. Ich bitte den Generalstabschef, eine Gefechtsanweisung an die Adresse der PMF „Wagner“ zwecks Übergabe der Positionen der Ortschaft Bachmut an Einheiten des Verteidigungsministeriums zu unterschreiben und das Datum auszuweisen, ab welchen Tag sie uns an den Positionen ablösen werden.
  18. Ich sehe zweifellos Kritik voraus. Nach irgendeiner Zeit werden sich Klugscheißer finden, die sagen werden, dass man auch weiter in Bachmut hätte bleiben müssen. Wer kritische Anmerkungen hat: Kommen Sie nach Bachmut, seien Sie herzlich Willkommen, stellen Sie sich mit Waffen in den Händen an die Stelle unserer getöteten Kameraden.
  19. Ich möchte noch einmal unterstreichen: Von den 45 Quadratkilometern Bachmuts sind 2,5 Quadratkilometer geblieben (die eingenommen werden müssen – Anmerkung der Redaktion). Indem Sie uns keine Geschosse geben, nehmen Sie nicht uns den Sieg. Sie nehmen dem Volk Russlands den Sieg.
  20. Wir lecken die Wunden. Und wenn die Heimat in Gefahr sein wird, werden wir erneut zu ihrer Verteidigung antreten. Das russische Volk kann mit uns rechnen“.