Die „Nesawisimaya Gazeta“ veröffentlichte dieser Tage einen redaktionellen Beitrag zur Situation in der im Fernen Osten Russlands gelegenen Region Chabarowsk nach der Festnahme des bisherigen Gouverneurs Sergej Furgal und Einsetzung dessen Parteikollegen Michail Degtjarow als zeitweiligen Regionalchef.
Laut Angaben einer aktuellen Untersuchung des Levada-Zentrums sind 30 Prozent der Befragten der Auffassung, dass in ihrer Stadt oder ihrem Landkreis Massenaktionen der Bürger gegen den Verfall des Lebensniveaus und zur Verteidigung ihrer Rechte möglich seien. Dies ist der höchste Wert innerhalb eines Jahres. Und mehr noch: Beinahe ein Drittel der Befragten (29 Prozent) seien bereit, an solchen Aktionen teilzunehmen.
Die letzte Zahl ist besonders relevant. So hatten im August 2014 lediglich 8 Prozent geantwortet, dass sie bereit seien, an Protestaktionen teilzunehmen. Dies war im Jahr des Beitritts der Krim, der Zuspitzung der Beziehungen mit der Ukraine und dem Westen sowie der Verhängung von Sanktionen und Gegensanktionen. Zu jener Zeit hatte sich bereits die Protestwelle der Jahre 2011 und 2012 gelegt und war die Gesetzgebung über Meetings verschärft worden. Im Juli 2018 erklärten 28 Prozent gegenüber den Soziologen, dass sie protestieren könnten. Das war die Zeit der größten Enttäuschung hinsichtlich der Intentionen der Herrschenden – gleich nach der Wahl von Wladimir Putin für eine neue Amtszeit und der Bekanntgabe der Rentenreform.
Es stellt sich heraus, dass jetzt der Wert für die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, sogar höher ist als im Sommer 2018 (wenn auch unerheblich). Man kann sagen, dass dies der postpandemische Wirtschaftseffekt ist. Mehr noch: Die Folgen des Wirtschaftsstillstands haben die Bürger wahrscheinlich noch nicht in vollem Maße für sich verspürt. Gleichzeitig geschehen Ereignisse, die die Bürger im ganzen Land auf die eine oder andere Weise verfolgen. Dies sind die Proteste in Chabarowsk, wo die Einwohner über die Verhaftung und Absetzung von Gouverneur Sergej Furgal empört sind. Die Umfrage des Levada-Zentrums hat gezeigt, dass 26 Prozent das Geschehen verfolgen, 57 Prozent „haben etwas darüber gehört“, 45 Prozent stehen den Protestierenden positiv gegenüber und nur 17 Prozent negativ.
Eine bedeutsame Nuance ist: Der Protest in Chabarowsk ist ein politischer. Natürlich ist es durchaus wahrscheinlich, dass die massive Unzufriedenheit einen sozial-ökonomischen Nährboden hat, dass wir eine Freisetzung aufgestauter negativer Energie beobachten. Das Wesen der Empörung besteht jedoch darin, dass die Menschen in der Region selbständig bestimmen wollen, wer bei ihnen an der Macht ist, und einfach dem Gouverneur ein neues Mandat versagen oder dessen vorzeitigen Rücktritt fordern möchten, wenn irgendwelche Tatsache ans Tageslicht kommen, die ihn kompromittieren. Es ist zu einem Wachrütteln der politischen Horizontalen gekommen, zu einem Wecken des Wunsches, die lokalen Probleme vor Ort zu lösen, ohne das Zentrum zu involvieren und von dort keine Protegés zu bekommen.
Wenn fast die Hälfte der durch das Levada-Zentrum Befragten den Protestierenden in Chabarowsk sympathisiert und dies erklärt, bedeutet dies, dass man deren Gedankengänge in anderen Regionen versteht und teilt. Dabei wirken die gewohnte Rhetorik der Offiziellen und die propagandistische Ausgestaltung solcher Aktionen scheinbar nicht oder sie wirken nicht so effektiv wie dereinst. Wenn die Forderungen von Menschen für viele ihrer Mitbürger verständlich sind, so ist es sehr schwer, die Protestierenden als Söldner des Westens, als Empfänger von Zuschüssen, die sich an ausländischen diplomatischen Vertretungen „herumtreiben“, oder als „orangene Revolutionäre“ darzustellen. Es gibt nichts Revolutionäres in den Forderungen, die in Chabarowsk laut werden. Und die Bürger des Landes sehen in solchen Aktionen nichts Gefährliches und bemerken kein besorgniserregendes „Ins-Schlingern-bringen des Bootes“.
Man kann vermuten: Hat diese Rhetorik wahrscheinlich aufgehört, vom Prinzip her zu funktionieren, und nicht nur im Fall von Chabarowsk? Letzten Endes gibt es bei jeglichem Protest, selbst wenn bekannte, nicht zum System gehörende Oppositionelle die Welle auszunutzen suchen, einen allgemein verständlichen sozialen, ökonomischen und sogar einen politischen Kern. Die Ansprüche und Forderungen der Bürger gegenüber den Herrschenden sind natürliche. Solche Geisteshaltungen sind nicht kriminell, genauso wie auch ihr Deklarieren.
Die Beurteilung des Geschehens in Chabarowsk durch die Einwohner der anderen Regionen gibt den Offiziellen einen Anlass, sich Gedanken zu machen. Schließt stellt sich heraus, dass solche Proteste vorerst noch lokale ganz und gar nicht deshalb sind, weil die Bürger Russlands den Offiziellen a priori vertrauen und in jeder beliebigen massiven Empörung eine Untergrabung der Grundfesten sehen. Sie fürchten eher für sich persönlich Konsequenzen. Sie schreckt die rigide Reaktion der Behörden auf derartige Aktionen ab. Angst ist eine effektive zügelnde Maßnahme. Doch die Praxis von Chabarowsk zeigt, dass auch diese Wirkung begrenzt ist.