Die Mitstreiter von Alexej Nawalny hatten die Offiziellen Russlands gebeten, dessen Transport nach Europa, in eines der führenden toxikologischen Zentren, zu unterstützen. Nach langem Warten und Verhandeln kam am späten Freitagabend die Entscheidung: Der russische Oppositionspolitiker kann nach Berlin zwecks Behandlung in der Charité ausgeflogen werden. Der war am Morgen des 20. August in das Omsker Notfallkrankenhaus Nr. 1 in einem schweren Zustand und mit einer unklaren Diagnose eingeliefert worden. Mehr als 24 Stunden waren erforderlich, um eine Diagnose zu stellen. Erste Vermutungen, dass der 44-jährige durch ein „nichtermitteltes Psychodysleptikum“, das heißt einen gewissen Stoff, der Halluzinationen auslöst, vergiftet worden war, wurden von den russischen behandelnden Ärzten am Freitag entkräftet. Die Nawalny-Anhänger hatten derweil nicht nur einfach nicht an einer Vergiftung gezweifelt, sondern auch hartnäckig diese Version verbreitet. Dabei hielt man sich hinsichtlich dessen bedeckt, was das Ziel der Reise des Politikers nach Tomsk war, aus der er auf dem Rückflug nach Moskau war und in Omsk von Bord des Flugzeugs, in dem er in ein Koma gefallen war, genommen wurde. Laut Informationen der „NG“ endete damit auch die kaum begonnene Nawalny-Wahlkampftournee durch Regionen des Landes.
„Es gibt keine Angaben für einen Schlaganfall und Infarkt, es liegen keine Angaben über Infektionen, darunter auch keine über eine Coronavirus-Infektion vor.“ Solche Informationen legte der stellvertretende Chefarzt des Krankenhauses, Anatolij Kalinitschenko über den Gesundheitszustand von Nawalnyj am Donnerstagabend vor. Den ganzen Tag war gerade er als Sprecher vor der Presse und den Anhängern des Oppositionspolitikers aufgetreten. Und löste verständlicherweise dadurch Unmut aus, dass er nichts Bestimmtes sagen konnte.
Um den Zwischenfall mit Nawalnyj hatte sich wirklich eine merkwürdige Situation mit der Nichtvorlage von Informationen über die offiziell ermittelte Diagnose im Verlauf von mehr als 24 Stunden ergeben. Lange sprachen die Ärzte nur darüber, was man bei Nawalnyj nicht festgestellt hätte. Daher äußerte die Umgebung des Politikers öffentlich ihr Misstrauen gegenüber der einheimischen Medizin und forderte gerade im Kontext der Gesundheit Nawalnyjs dessen Transport ins Ausland. Erstaunlicherweise wurde diese Forderung auch von den Offiziellen unterstützt. Dmitrij Peskow, Pressesekretär des Präsidenten, hatte bereits am Donnerstag auf Fragen von Journalisten erklärt, dass die Antwort hinsichtlich einer Ausreise eine positive sein werde, „wenn man sich an den Kreml wendet oder das Gesundheitsministerium oder jegliche andere Behörde anfragt“. Nach Aussagen Peskows „reisen viele Bürger Russlands in diesen Tagen, obgleich die Grenzen geschlossen sind, zu einer Heilbehandlung ins Ausland. Und natürlich werden wir bereit sein, solche Anfragen, wenn es sie geben wird, sehr operativ zu prüfen“.
Die Leiterin der von Nawalnyj initiierten „Allianz der Ärzte“, Anastasia Wassiljewa, wandte sich sofort über die sozialen Netzwerke an den Kreml, der schon aus dem Munde von Peskow dem Oppositionellen eine baldige Genesung gewünscht hatte. „Wir reagieren offiziell auf das Angebot und bitten um die Unterstützung bei der Übergabe der medizinischen Dokumente für eine Überführung Nawalnyjs in ein führendes toxikologisches Zentrum in Europa.“ Der Chefarzt des Nothilfekrankenhauses Nr. 1 weigerte sich einige Zeit, der Gattin, Wassiljewa und dem Vertreter der Nawalny-Antikorruptionsstiftung Iwan Schdanow einen Auszug aus der Krankengeschichte oder die Epikrise auszuhändigen, hieß es auf Twitter. Wassiljewa war übrigens kurzfristig aus Moskau in Omsk eingetroffen, um zu Nawalnyj zu gelangen, wobei sie unterwegs die Handlungen der Ärzte in der sibirischen Stadt a priori kritisierte. Man hatte sie natürlich nicht in das Krankenhaus gelassen. Aber noch merkwürdiger war, dass solche Schwierigkeiten auch Gattin Julia erleben musste. Anfangs wurde ihr angeblich erklärt, dass sie eine Zustimmung des Patienten brauche. Aber aus dem Koma kann er die natürlich nicht geben. Letztlich ließ man sie doch noch auf die Intensivstation.
An der Stelle macht es auch Sinn hervorzuheben, dass einen Großteil des Informationsbildes den ganzen Donnerstag Nawalnyjs Pressesekretärin Kira Jarmysch bildete, die zusammen mit ihm aus Tomsk nach Moskau abgeflogen war. Daher erwies sich die Vergiftungsversion ohne jegliche Bestätigung dafür als faktisch dominierende. Zu einer anschaulichen Bestätigung dessen wurde die Erklärung des Vorsitzenden der Partei „Gerechtes Russland“, Sergej Mironow, der eine offene Untersuchung des Zwischenfalls forderte. Der Politiker ist der Auffassung, dass sich selbst der härteste politische Kampf nicht bis zu Methoden einer Gefechtspharmakologie herablassen dürfe. Im Übrigen bewegt der Zustand Nawalnyjs den Kommentaren des bereits erwähnten Präsidenten-Pressesekretärs nach zu urteilen beinahe alle Offiziellen von der obersten Führungsriege aus bis nach unten. Auf jeden Fall bekundete Peskow die Gewissheit, dass in der für den Präsidenten zusammengestellten Medien-Übersicht dieser Vorfall einen Niederschlag finden werde.
Andererseits kann man, wenn man entsprechend den kremltreuen Informationsressourcen nach urteilt, Versuche einer Anprangerung des Oppositionspolitikers bis hin zu einer vollkommen offenkundigen Diffamierung ausmachen. Und Jarmysch war schon gezwungen gewesen, sowohl die Version der Vergiftung Nawalnyjs durch Alkohol als auch eines medikamentösen Schlags gegen die Gesundheit zu dementieren. Die Version der Nawalnyj-Anhänger ist solch eine: Ihr Führer schickte sich nach dem Tomsk-Besuch an, nach Moskau zurückzufliegen. Am Morgen hatte er nur Tee im Flughafen getrunken. Im Flugzeug hatte er nichts gegessen. Er begann sich schlecht zu fühlen, erhielt medizinische Hilfe an Bord, der Flugkapitän entschied sich für eine außerplanmäßige Landung in Omsk. Weiter: eine SMH und dann das In-ein-Koma-fallen. Freilich, die Ärzte präzisierten nicht, ob es ein künstliches oder natürliches war. In den Abendstunden des Freitags dann die Information der behandelnden Omsker Mediziner: Eine Vergiftung Nawalnyjs kann ausgeschlossen werden.
Vor dem Hintergrund all dieser Aufregung und Sorgen um den Oppositionspolitiker sagten Jarmysch und andere Vertreter aus dessen Umgebung nichts darüber, was der in Tomsk gemacht hatte. Dies ist aber gut anhand seines Instagram-Accounts nachvollziehbar. Die Sache ist die, dass ab dem 17. August die Wahlkampf-Tournee Nawalnyjs durch jene Regionen begonnen hatte, in denen Vertreter seines Teams kandidieren. Der Oppositionspolitik war zuvor in Nowosibirsk und legte dann auf dem Rückweg nach Moskau einen Zwischenstopp in Tomsk ein. Merkwürdig ist, dass die Version, wonach die bösen Offiziellen Angst vor einem Siegeszug Nawalnyjs bekamen und beschlossen, ihn zu stoppen, bisher keine Verbreitung gefunden hat. Am Samstag wird nun aber Alexej Nawalnyj nach Berlin ausgeflogen, hieß es kurz vor Mitternacht in der über 4000 Kilometer von der deutschen Hauptstadt gelegenen sibirischen Stadt Omsk.
Die Ereignisse dort verfolgten auch Autoren einflussreicher gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle. „Eine sorgfältige Untersuchung der Vergiftung von Alexej Nawalnyj ist notwendig“, schrieb der Chefredakteur des Hörfunksenders „Echo Moskaus“, Alexej Wenediktow (https://t.me/aavst). „Am besten ist es, sich auf Fakten zu stützen. Und derer gibt es wenig. Eine offizielle Diagnose gibt es noch nicht“, betont „Tjomnik“ („Der Dunkle“ — https://t.me/polittemnik). „Im Leben ist alles weitaus schwieriger und gleichzeitig einfacher. Nicht immer bestimmt die in der Politik beliebte Logik „wem gereicht es zum Nutzen“ die Realität. Die Situation wird sich schon bald klären, so dass es keinen Sinn macht, auf einen Hype zu setzen und herumzurätseln“. „Während sich die Spezialisten für die europäische Integration Weißrusslands operativ zu Kriminalisten und Toxikologen umqualifizieren, erinnern wir an eine unvergängliche Regel: „Nichts bringt uns einer Antwort so nahe wie eine richtig gestellte Frage“. Und diese Frage lautet, wie wir annehmen, jetzt nicht: „Was ist mit Alexej Nawalnyj passiert?“, sondern: „Wie ist es dazu gekommen, dass die Version über eine Vergiftung automatisch von der Umgebung des Politikers als einzige angenommen wurde und die dem Zwischenfall vorausgegangenen Ereignisse ursprünglich so wiedergegeben wurden, um auf maximale Weise gerade für sie, die Version, zu wirken?“, konstatiert die „Maus im Gemüsefeld“ (https://t.me/kbrvdvkr).