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Nawalny-Mitstreiter bekommen wohl Recht mit ihrer Vergiftungsversion


Spezialisten der Berliner Charité untersuchen weiter den Zustand des Organismus von Alexej Nawalnyj und veröffentlichten ihren ersten Befund am Montagnachmittag. Omsker Mediziner sprechen von Koffein und Alkohol in seinen Analysen. Die nächste Mitarbeiter Nawalnyjs sagten einen YouTube-Auftritt ab, in dessen Verlauf die Wahrheit „über die Vergiftung“ offengelegt werden sollte. Auf die Frage danach, was mit den Strukturen und den Projekten wie das der „klugen Abstimmung“ werde, antworten Experten, dass der Oppositionspolitiker auch aus dem Ausland alles leiten könne. Das Wichtigste sei, dass er handlungsfähig bleibe. 

Der Versionen hinsichtlich der Ursache für eine solch akute Verschlechterung des Gesundheitszustands von Nawalnyj gab es zwei. Der ersten nach zu urteilen, sei sie durch unabhängige Ursachen ausgelöst worden – Diabetes, ein übermäßiges Hungern um das Körpergewicht zu verringern, der Genuss alkoholischer Getränke und sogar von Drogen. Die zweite Version, die aktiv von den deutschen Medien unterstützt wurde – ein Anschlag.

Natürlich sollte man auch nicht den rein marketingtechnischen Schachzug des Nawalnyj-Teams ignorieren. Russische Wahlen sind stets voller Überraschungen. Dazu genügt es, sich die bekannte russische Filmkomödie „Wahltag-2“ von 2016 anzuschauen.

Die Geschichte mit Nawalnyj löste eine so große Aufmerksamkeit im Zusammenhang damit aus, dass in Russland am 13. September in zahlreichen Regionen Wahlen stattfinden werden. Nawalnyj hatte ab dem 14. August eine Reise zur Organisierung der Teilnahme unabhängiger Kandidaten an ihnen unternommen und vor Tomsk Nowosibirsk aufgesucht. Die von Nawalnyj vorgeschlagene Taktik der „Klugen Wahlen“ (KW), die eine Vereinigung kritisch denkender Wähler gegen die herrschende Partei „Einiges Russland“ vorsieht, kann Erfolg haben. 

Der Koordinator der regionalen Stäbe Nawalnyjs, Leonid Wolkow, hatte die zuvor für den 23. August angekündigte YouTube-Sendung, in deren Verlauf die gesamte Geschichte mit der zu dem Zeitpunkt vermuteten Vergiftung des Oppositionsführers erzählt werden sollte, abgesagt. Geplant war augenscheinlich, dass Nawalnyjs Pressesekretärin Kira Jarmysch gewisse zusätzliche Informationen preisgeben werde. „Ich aus Berlin, Kira aus Moskau. Wir werden ausführlich über alle Ereignisse der letzten Tage berichten, wie alles tatsächlich war“, hatte Wolkow versprochen. Doch den Grund für die Absage dieser Sendung nannte er nicht. „Wir werden sie unbedingt später fahren, wenn wir dazu bereit sind“, erläuterte er. Bemerkenswert ist, dass auch das Video, dass die Analyse der Situation mit der „Vergiftung Nawalnyjs“ angekündigt hatte, wurde später ebenfalls aus YouTube entfernt. 

Freilich gibt es seit Montagnachmittag in der Tat eine neue Situation, ausgelöst durch das offizielle Statement der Berliner Charité, in die der 44-jährige am Samstagvormittag eingeliefert wurde. In dem heißt es: „Der Patient befindet sich auf einer Intensivstation und ist weiterhin im künstlichen Koma. Sein Gesundheitszustand ist ernst, derzeit besteht jedoch keine akute Lebensgefahr“. Und weiter erklären die deutschen Ärzte einen Tatbestand, der alle bisherigen Informationen der Omsker Mediziner, die als Nawalnyj behandelt hatten, in Zweifel ziehen lassen kann. „Die klinischen Befunde deuten auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. Die konkrete Substanz ist bislang nicht bekannt, und es wurde eine weitere breitgefächerte Analytik initiiert. Die Wirkung des Giftstoffs, d. h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach und in unabhängigen Laboren nachgewiesen.“

Verständlich ist, dass alle angesehenen Oppositionellen einmütig „die Vergiftung Nawalnyjs“ erklärt hatten, wobei sie darin „Ränkespiele des blutigen Regimes“ ausmachten. Mit solchen oder ähnlichen Worten hatten in den letzten Tagen auch Chodorkowskij, Spitzenvertreter der „Jabloko“-Partei, Dmitrij Gudkow, Andrej Netschajew und viele andere die Situation beschrieben. Es ist klar, wie immer sie auch persönlich zu Nawalnyj stehen mögen, objektiv erkennen alle an, dass dies in der russischen Opposition eine der Schlüsselfiguren ist. Und daher befragte die „NG“ Experten, wie die unterschiedlichen Strukturen und Projekte Nawalnyjs ohne ihn arbeiten können – vorübergehend oder möglicherweise überhaupt für ständig. Was wird beispielsweise mit der „klugen Abstimmung“, für die gerade in diesen Tagen die Kandidaten vorgestellt werden sollten. Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für Polit-Technologien, vermutet, dass, selbst wenn sich Nawalnyj im Ausland aufhalten wird, dies ganz und gar nicht ein Verzicht auf eine politische Tätigkeit bedeute. „Zum Beispiel hatte auch Lenin aus dem Ausland die Fraktion der Sozialdemokraten in der Staatsduma geleitet und die Zeitung „Iskra“ herausgegeben. Mit dem Internet ist alles weitaus einfacher. Nawalnyj kann durchaus seine Struktur lenken und sich an die Anhänger wenden. Das Wichtigste ist, dass er handlungsfähig ist“. Dabei räumte der Experte aber ein, dass ohne eine ständige Anwesenheit des Führers jede Struktur dennoch schwächer werde, umso mehr solch eine, auf die „ständig ein Druck der Strukturen der Rechtsschutzorgane ausgeübt wird“. Folglich schließt er ein Nachlassen des Enthusiasmus unter den Nawalnyj-Anhängern nicht aus. Probleme könnten auch mit der „klugen Abstimmung“ auftreten. Eine Liste der Kandidaten könne durchaus auch das Team von Nawalnyj vorstellen. Doch die Frage bestehe darin, ob es ein genauso überzeugendes für die Gesellschaft wie der Anführer an sich sein könne. „Wenn Nawalnyj handlungsfähig sein wird, so wird er natürlich leicht eine Präsentation aus dem Ausland vornehmen. Wenn aber nicht, so genießt keiner in seiner Umgebung solch eine uneingeschränkte Autorität, um die Menschen davon zu überzeugen, massenhaft abzustimmen“, unterstrich Makarkin.

Alexej Kurtow, Präsident der Russischen Vereinigung der Polit-Berater, erklärte gegenüber der „NG“, „so lange nichts Tragisches mit Nawalnyj passiert ist, wird das Netzwerk in einem einsatzbereiten Regime funktionieren. Das Wichtigste ist, dass die Strategie bestimmt ist. Und im operativen Regime gibt es wen, der arbeiten kann“. Das gleiche gelte auch für die „kluge Abstimmung“: Dies sei doch nicht Nawalnyj, der „herumsitzt und die Chancen eines jeden Kandidaten bei den Wahlen, dessen Kampagne und Popularität durchrechnet, sondern ein ganzes Team“. Daher werde die Organisation, solang der Führer nicht zurückkehre, in der vorgegebenen Richtung arbeiten, ist sich Kurtow sicher. Das Netzwerk Nawalnyjs könne nur in dem Falle auseinanderbrechen, wenn endgültig klar werden würde, dass er nicht zu einer politischen Tätigkeit zurückkehren werde. Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow ist gleichfalls der Auffassung, dass vorerst auch ohne Nawalnyj sein Netzwerk nicht auseinanderbreche. „Die Festigkeits- und Beständigkeitsreserve sollte für ein Jahr reichen. Alles wird im bisherigen Regime funktionieren. Dies wird auch mit der „klugen Abstimmung“ der Fall sein, für die es einen Plan hinsichtlich der nächsten Wahlen gibt. Doch wenn Nawalnyj nicht in die aktive Politik zurückkehrt, werden seine nächsten Mitstreiter offensichtlich gezwungen sein zu entscheiden, was mit den gegenwärtigen Stäben tun“.

Noch befindet sich Nawalnyj am Anfang einer wohl langwierigen Heilbehandlung, so dass die Frage nach seiner weiteren Handlungsfähigkeit eine aktuelle bleibt. Zumal im offiziellen Statement der Charité am Montag auch erklärt wurde: „Entsprechend der Diagnose wird der Patient mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher, und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden“.