Kiew nimmt eine immer härtere Haltung in den Beziehungen mit Moskau ein. Leonid Krawtschuk, der die ukrainische Delegation bei den Minsker Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes im Donbass leitet, hat sich während der jüngsten Sitzung der trilateralen Kontaktgruppe an den bevollmächtigten Vertreter der Russischen Föderation, Boris Gryslow, gewandt und erklärt: „Stellen Sie uns keine Ultimaten. Wir sind nicht in der UdSSR und nicht unter dem Kreml“. Und in der Werchowna Rada (das Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion) ist man bereit, ein Gesetz über die Haftung für das Leugnen der „Tatsache der bewaffneten Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine“ zu verabschieden.
Die Abgeordneten schlagen unter anderem vor, allen ukrainischen Politikern und Beamten eine Teilnahme an Veranstaltungen auf dem Territorium der Russischen Föderation und auf den Territorien, die die Ukraine als „zeitweilig okkupierte“ anerkannte, zu verbieten. Untersagt wird gleichfalls, „Kontakte herzustellen sowie mit Machtorganen des Aggressor-Staates und den zeitweiligen Okkupationsverwaltungen zusammenzuarbeiten“. Ausnahmen sind nur für die Fälle vorgesehen, in deren Hinsicht die Werchowna Rada eine spezielle Genehmigung erteilt. Das heißt: Wenn der Gesetzentwurf verabschiedet wird, werden die Vertreter der Partei „Oppositionelle Plattform – Für das Leben“ nicht mehr zu Gesprächen nach Moskau fahren können. Und jeglicher Politiker oder Beamter, der vorschlägt, Verhandlungen mit der Führung der Donezker Volksrepublik/der Lugansker Volksrepublik aufzunehmen, wird als ein Verbrecher angesehen.
„Diese Verbote haben zum Ziel, den Einfluss der Informationsagenten der Russischen Föderation auf die Ukraine zu desavouieren“, heißt es in den erläuternden Dokumenten zur Gesetzesvorlage. Nach Meinung deren Autoren sei die Beeinflussung auf „eine Anerkennung der Legitimität der Okkupation eines Teils des Territoriums der Ukraine durch die Russische Föderation im Weiteren“ ausgerichtet, „was letztlich zu einer Vernichtung der Ukraine als ein Staat führen wird“. Derzeit wird die Gesetzesvorlage in den Parlamentsausschüssen behandelt. Und bisher ist er noch nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Der geschäftsführende Partner der Anwaltsvereinigung „Mogilnizkij und Partner“ Maxim Mogilnizkij, den das Internet-Medium www.strana.ua zitiert, betonte, dass die Verbotsliste „Beamte der Staatsmacht und der örtlichen Selbstverwaltungsorgane, aber auch nationale öffentliche Vertreter“ tangiere. „Es geht sowohl um einstige als auch um amtierende Top-Beamte, Richter, Abgeordnete, Leiter staatlicher Unternehmen und politischer Parteien“. In der Gesetzesvorlage gebe es aber keine Norm hinsichtlich der Haftung für eine Verletzung deren Normen. „Es stellt sich heraus, dass es ein Verbot gibt, aber keine Haftung. Wozu dann also solch ein Aufheben machen? Erstens, dies ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, den „Patrioten“ ein weiteres Mal den Bauch zu pinseln… Zweitens, die Beamten werden dieses Verbot auch ohne eine Haftung einhalten. Schließlich ist es besser, am Arbeitsplatz zu sitzen und die Klappe zu halten, als im Arbeitsamt Klartext zu sprechen. Drittens, schon sehr bald kann ein winzig kleiner Gesetzentwurf mit einem unauffälligen Titel auftauchen, der eine strafrechtliche Verantwortung für die Verletzung der aufgezählten Verbote einführen wird. Und möglicherweise deren Geltung auf ausnahmslos alle Bürger ausdehnt“.
Die erste Gesetzesvorlage aus dieser Serie war im März 2015 registriert worden. Sie sah vor, das Strafgesetzbuch durch einen Paragraphen über eine Bestrafung für das öffentliche Negieren der „Tatsache der russischen Aggression“ zu ergänzen. Den einfachen Rechtsbrechern hätten drei bis fünf Jahre Gefängnis gedroht, den Vertretern der Machtorgane aber fünf bis zehn Jahre Freiheitsentzug für solch einen Rechtsbruch. Bekanntlich hatte die Werchowna Rada Anfang 2015 einen Beschluss verabschiedet, durch den sie Russland als einen „Aggressor-Staat“ anerkannte. Der Kriegszustand wurde jedoch im Zusammenhang damit nicht verhängt. Und im Februar 2015 keimte die Hoffnung auf eine baldige Friedensregelung auf: Unterzeichnet wurde ein Komplex von Maßnahmen zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen (Minsk-2). Der Gesetzentwurf wurde vertagt.
Im Verlauf des Jahres 2016 wurde Minsk-2 auch nicht realisiert. Und Anfang 2017 setzte die Werchowna Rada einen neuen Gesetzentwurf über die Ergänzung des Strafgesetzbuches durch einen Paragraphen mit dem Titel „Öffentliche Negierung der Tatsache einer militärischen Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine“ auf die Tagesordnung. Vorgesehen wurde eine Haftung sowohl für öffentliche Erklärungen über die Legitimität des russischen Status der Krim und darüber, dass der Krieg im Donbass ein interner ukrainischer Konflikt ist, als auch für die Verbreitung von Materialien derartigen Inhalts. Die Autoren hatten vorgeschlagen, die Zuwiderhandelnden mit Strafen oder einem Freiheitsentzug für eine Dauer von bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
Doch die Juristen der Werchowna Rada hatten Beanstandungen hinsichtlich der Gesetzesvorlage geäußert. In einem Gutachten, das damals durch ukrainische Medien veröffentlicht worden war, hieß es, dass man für Kriegsverbrechen bestrafen könne, aber nicht für Erklärungen, die „eine Form der Realisierung des Verfassungsrechts des Menschen auf Meinungs- und Redefreiheit, auf eine freie Bekundung seiner Ansichten und Überzeugungen sind“. Äußerungen stellen im Unterschied zu Kriegsverbrechen „an und für sich keine gesellschaftliche Gefahr dar, die für deren Anerkennung als ein Verbrechen notwendig und hinreichend ist“, hieß es in den Schlussfolgerungen der Juristen. Außerdem lenkten sie die Aufmerksamkeit der Abgeordneten darauf, dass die Personen, die gemäß den Normen des Gesetzentwurfs zur Verantwortung gezogen werden könnten, nicht diejenigen seien, die „bewusst eine antiukrainische Propaganda betreiben und falsche Informationen, um der Ukraine einen Schaden zuzufügen, verbreiten“, sondern diejenigen, „die zu einem Opfer solch einer Propaganda geworden sind“.
Öl ins Feuer der Streits goß die Opposition. Im September 2018 gab der Abgeordnete des „Oppositionsblocks“ Nestor Schufritsch in einer Sendung des TV-Kanals NewsOne eine für ukrainische Maßstäbe provokante Erklärung ab, wonach der Krieg im Donbass kein Konflikt mit Russland sei. „Dies ist ein Krieg zwischen den Ukrainern… Wir alle hören von einer Anwesenheit russischer Militärs. Dort aber (im Donbass – „NG“) arbeiten ständig eine Monitoring-Gruppe der OSZE und ein Sonderkommissar der UNO. Und keiner von ihnen hat eine Anwesenheit russischer Truppen im Donbass fixiert“. Danach begann man in der Ukraine, von einer „fünften Kolonne“ zu sprechen. In den Fernsehsendern fingen Überprüfungen an.
Die Erklärung von Schufritsch widersprach direkt dem im Januar 2018 verabschiedeten ukrainischen Gesetz „Über die Besonderheiten der Staatspolitik zur Gewährleistung der staatlichen Souveränität der Ukraine auf den zeitweilig okkupierten Territorien“ (das als „Gesetz über die Deokkupation“ bekannt ist). In dem ist direkt gesagt worden, dass Russland auf der Krim und im Donbass „eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine“ vornehme, dass die örtlichen Behörden auf der Krim, in der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik aus der Sicht der Ukraine „zeitweilige Okkupationsverwaltungen“ seien und dass ein Teil des Territoriums der Ukraine „okkupiert“ sei. In diesem Gesetz gibt es aber keine Norm über eine Bestrafung für eine Leugnung dessen Bestimmungen. Nach dem Skandal registrierten die Abgeordneten der Werchowna Rada der vergangenen Legislaturperiode noch einen Gesetzentwurf, in dem vorgeschlagen wurde, die Fernsehkanäle mit erheblichen Strafen zu belegen, die Erklärungen ausstrahlen, die der offiziellen Position widersprechen.
Bei der Analyse der Situation verweisen Experten darauf, dass die Position des Staates Ukraine nicht ganz logisch sei. Nikolaj Siryj, wissenschaftlicher Oberassistent des Korezkij-Instituts für Staat und Recht der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, sagte gegenüber „Radio Liberty“, dass Instrumente für einen informationsseitigen Schutz des Staates notwendig seien. Die Frage aber sei: was für welche? „Nicht nur im Fall einer Aggression, sondern selbst im Falle der Gefahr einer Aggression kann das Staatsoberhaupt den Kriegszustand verhängen. Dies, und ich möchte dies unterstreichen, bedeutet ganz und gar nicht den Beginn eines „heißen Krieges“, sondern bedeutet tatsächlich eine Überführung des juristischen Systems des Staates in ein anderes Rechtsregime. Dies betrifft das System der Pflichten und Anforderungen an die Bürger und an die staatlichen Einrichtungen“. In der Ukraine ist bisher kein Kriegszustand verhängt worden. „Wir haben eine Situation, in der man für die Tatsache einer Negierung des Krieges gegen Russland nicht bestrafen kann, denn der Staat Ukraine an sich hat diese Tatsache nicht klar anerkannt“, sagte der Experte.
Obgleich die Situation sich nicht verändert hat, hat eine Gruppe von Abgeordneten der derzeitigen regierenden Partei „Diener des Volkes“ ihre Gesetzesvorlage zu dem gleichen Thema registriert. Sie betrifft nicht alle Bürger der Ukraine, sondern nur Beamte aller Ebenen und Politiker. Durch diese Vorlage wird vorgeschlagen, Äußerungen zu verbieten, die die „bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine und die zeitweilige Okkupation eines Teils des Territoriums der Ukraine durch Russland“ leugnen. Außerdem sollen die Äußerungen unter ein Verbot gelangen, die die „drei Akte des Genozids auf dem Territorium der Ukraine im Verlauf des 20. Jahrhunderts – den Holodomor von 1932-1933, den Holocaust und die Deportation der Krimtataren von der Krim 1944 –“ verneinen. Separat wird vorgeschlagen, eine Haftung für die „Verurteilung der Handlungen der Streitkräfte der Ukraine, der Nationalgarde, des Sicherheitsdienstes der Ukraine und des Staatlichen Grenzdienstes, die auf die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine abzielen“ einzuführen.