Die Oppositionspolitiker demonstrieren eine Konsolidierung nach dem Tod der Chefredakteurin des Internetportals Koza.Press, Irina Slawina (Muchartajewa), die am 2. Oktober am Gebäude der Hauptverwaltung des Innenministeriums in Nishnij Nowogord durch Selbstverbrennung ums Leben kam. Die Bewegung „Golos“ („Die Stimme“) bezeichnete als Anstiftung zum Selbstmord die der Selbstverbrennung vorausgegangene Hausdurchsuchung bei der Aktivistin und die Vorwürfe hinsichtlich ihrer angeblichen Verbindungen mit einer „unerwünschten Organisation“ seitens der Vertreter der Rechtsschutzorgane. Gleb Nikitin, der Gouverneur des Verwaltungsgebietes Nishnij Nowgorod, verlangte, das Vorgefallene aufzuklären.
„Ich werde alle Anstrengungen unternehmen, damit die Aufklärung der Umstände, die zu der Tragödie führten, unter einer Kontrolle auf höchster Ebene steht“, schrieb Nikitin auf Instagram. „Es gibt Situationen, bei denen unnötige leere Worte einfach unangebracht sind. Ich habe aber für mich entschieden, zu schweigen und keine menschliche Haltung zum Vorgefallenen zu bekunden ich einfach nicht kann. Zumindest weil ich Irina persönlich gekannt habe“, erklärte der Gouverneur seine Haltung zu der Tragödie. Nikitin unterstrich, dass seit dem Beginn seiner Arbeit in der Region die Journalistin unbequeme Fragen gestellt hatte.
Zuvor hatte die stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder, Oxana Puschkina, erklärt, dass sie eine Abgeordnetenanfrage an Generalstaatsanwalt Igor Krasnow und den Leiter des Untersuchungskomitees Alexander Bastrykin mit der Bitte gesandt habe, zu klären, wie adäquat die Handlungen der Mitarbeiter und die Umstände der Hausdurchsuchung bei Irina Slawina waren.
Die Bewegung „Golos“ veröffentlichte eine Erklärung, in der sie betonte, dass sich die Tragödie ereignete, nachdem man in den frühen Morgenstunden des 1. Oktobers bei Irina zu Hause eine Durchsuchung im Rahmen eines Untersuchung hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit einer unerwünschten Organisation vorgenommen hatte. „Ungeachtet dessen, dass sie lediglich zu einer Zeugin erklärt worden war, beschlagnahmte man bei Irina die ganze Technik. Und sie musste sich unter Aufsicht von Polizeimitarbeitern ankleiden. Dabei wurde sie aufgrund des gesellschaftlichen Engagements, das eine Wahlberichterstattung und die Teilnahme an der (Wahl-) Beobachtung umfasste, im Verlauf mehrerer Jahre einer systematischen Verfolgung seitens der Rechtsschützer ausgesetzt“, betont man in der Bewegung. In der Erklärung heißt es, dass zum Anlass für die Hausdurchsuchung die Trainings von „Golos“ für Wahlbeobachter geworden seien, die die Polizei versuchte, vor dem Start der vorgezogenen Abstimmung abzubrechen. „Später begann man, die Durchführung der Trainings „Offenes Russland“ zuzuschreiben, obgleich die Organisation von Michail Chodorkowskij mit ihnen nichts zu tun hatte. Mehr noch, es gibt keine Abteilung von „Offenes Russland“ in der Region“, unterstreichen die Aktivisten.
„Die Verwaltung des Untersuchungskomitees Russlands für das Verwaltungsgebiet Nishnij Nowgorod beeilte sich heute zu erklären, dass die Selbstverbrennung von Irina Slawina nicht mit der Hausdurchsuchung zusammenhänge“, sagte der Vorsitzende des Komitees gegen Folterungen Igor Kaljapin. „Das stehe in keinem Zusammenhang, weil keiner Slawina irgendetwas vorgeworfen und nichts verdächtigt hätte. Sie figurierte in dem Fall als Zeugin. Augenscheinlich könne nach Meinung der Vertreter des Untersuchungskomitees Russlands in Nishnij Nowgorod nur ein Schuldiger ein psychologisches Trauma aufgrund eines Überfalls auf die persönliche Unterkunft verspüren. Ein gesetzestreuer Mensch aber empfinde eine morgendliche Hausdurchsuchung von einem Team aus zwölf Personen unter Beteiligung einer Polizeispezialeinheit als normal. Und die Beschlagnahmung digitaler Datenträger, von Notizblöcken und eines Computers im Verlauf dieser Hausdurchsuchung soll ein gesetzestreuer Mensch, ein professioneller Journalist mit Freude und Dankbarkeit aufnehmen“.
Hausdurchsuchungen unter Beteiligung des Untersuchungskomitees, Polizeispezialkräften und des Zentrums für Extremismus-Bekämpfung fanden auch bei anderen Bürgern statt, die bei der Beobachtung der Stimmenabgabe im Einsatz waren: bei dem Unternehmer und Eigentümer des Raumes, wo die Schulungsveranstaltungen stattgefunden hatten, Michail Iosiljewitsch (gegen ihn wurde ein Strafverfahren eingeleitet), bei zwei nichtregistrierten Kandidaten für die Wahlen zur Stadtduma – dem Koordinator des Nawalny-Stabs in Nishnij Nowgorod Roman Tregubow und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Jabloko-Regionalabteilung Alexej Sadomowskij, bei dem Journalisten Dmitrij Sliwotschnik sowie bei den Aktivisten Michail Borodin und Jurij Schaposchnikow. Natalia Resontowa, die für die Jabloko-Partei kandidiert hatte, war nicht zu Hause, als man zu ihr zwecks Durchsuchung kam.
In der Bewegung „Golos“ ist man der Auffassung, dass der zunehmende Druck auf die Zivilgesellschaft mit den Staatsduma-Wahlen im Jahr 2021 zusammenhänge.
Der Nawalny-Stab in Nishnij Nowgorod stellte an die Offiziellen die Forderung, ein Strafverfahren wegen Anstiftung zum Selbstmord durch eine Gruppe von Personen nach vorheriger Absprache einzuleiten. „Zu Figuranten des Falls sollen werden: der Untersuchungsbeamte Andrej Schlykow, der das Strafverfahren eingeleitet hatte, auf dessen Grundlage die Hausdurchsuchung bei Slawina erfolgte; der Staatsanwalt Nikolaj Borosinez, der grünes Licht für das getürkte Strafverfahren gegeben hatte; der Richter Alexej Polsunow, der die Hausdurchsuchungen sanktionierte; sowie die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees, des Zentrums für Extremismus-Bekämpfung, des FSB, der Polizei und anderer Institutionen, die an der politischen Hetze und Verfolgung der unabhängigen Journalistin teilgenommen hatten“, meinen die Anhänger Nawalnys.
Die Oppositionspolitiker fordern einen Rücktritt von Gouverneur Gleb Nikitin, von Airat Achmetschin, des Leiters des Untersuchungskomitees für das Verwaltungsgebiet Nishnij Nowgorod, und von Jurij Arsentjew, des Regionalchefs des Innenministeriums. „Unter ihrer Führung haben die Rechtsschützer Irina und allen politischen Opponenten der Herrschenden Albträume beschert“, unterstrich man im Nawalny-Stab.
Alexej Nawalny selbst kommentierte die Tragödie auf Twitter so: „Ein Verbrechen, für das nicht nur die Vertreter der Rechtsschutzorgane von Nischnij Nowgorod haften müssen, die das mehrmonatige ununterbrochene Harassment gegen die Opposition in der Stadt veranstalteten… Es müssen auch jene im Kreml haften, die ihnen Befehle erteilten“.