Der offene Brief einer Gruppe von Abgeordneten des Volkshurals von Kalmückien an Wladimir Putin mit einer Beschwerde über die schlechte Arbeit des Oberhauptes der Republik, Batu Chassikow, wurde zum zweiten Signal innerhalb weniger Tage über Probleme der Regionalpolitik des Kremls. Zuvor hatte ein Drittel der Abgeordneten des El Kurultai der Altai-Republik für ein Misstrauensvotum gegen Oleg Chorochordin, den Leiter dieses Subjekts der Russischen Föderation, plädiert. Die beiden sind Gouverneure-Technokraten, aufoktroyierte aus dem Jahrgang 2019. Obgleich sich der Unmut in verschiedenen Formaten äußert, besteht sein Wesen in der ineffektiven Leitung. Bezeichnend ist, dass sich dieses Problem gerade in den nationalen Regionen offenbarte, in deren Mehrzahl das föderale Zentrum die lokale Spezifik ignoriert. Wenn zum sozial-ökonomischen Unmut der Bürger auch noch ein ethnischer Faktor hinzukommt, so wird es schwer werden, weiter über irgendeine politische Stabilität im Land zu sprechen.
Die Hauptsensation in der Geschichte mit der Beschwerde an Putin über Chassikow ist offensichtlich die Situation, in der unter dem offenen Brief Unterschriften von Vertretern aller drei Fraktionen des Volkshurals – von „Einiges Russland“, der KPRF und von „Gerechtes Russland“ – stehen. Es sei daran erinnert, dass Chassikow, einst ein mehrfacher Weltmeister im Profi-Kickboxen, im Jahr 2019 mit Unterstützung der regierenden Partei gewählt wurde. Zum Chef des Regionalparlaments wurde ein Vertreter von „Einiges Russland“. Und „Einiges Russland“ an sich besitzt dort die Mehrheit. Jedoch muss gerade die Tatsache des eigentlichen Appells an den Präsidenten als wichtiger angesehen werden. Darin wird unterstrichen, dass alle Parteien voll und ganz seine Politik unterstützen würden. Aber das Problem bestehe darin, dass er sich ergeben habe, dass das Oberhaupt von Kalmückien die überhaupt nicht realisiere. Das heißt, dem Kreml ist ein Signal gesandt worden, wonach ein weiterer Technokrat mit der Handsteuerung einer Region nicht fertig geworden ist.
Es sei daran erinnert, dass nur wenige Tage zuvor in der Altai-Republik eine ähnliche Situation entstanden war. Der aufoktroyierte Regionalchef aus dem bereits erwähnten Jahrgang 2019 habe nach Meinung der Abgeordneten des Regionalparlaments die Kontrolle über das ihm anvertraute Territorium verloren. Chorochordin drohte man ein Misstrauensvotum an, für das sich die erforderliche Anzahl von Abgeordneten des El Kurultais – ein Drittel von ihnen – ausgesprochen hat. Und obgleich die Entwicklung der Ereignisse aufgrund formaler Ursachen derzeit ins Stocken geraten ist (aufgrund des Zurückziehens einer Unterschrift), macht es kaum Sinn, die Auffassung zu vertreten, dass die Altai-Clans, die nicht einmal so sehr von der sichtbaren Macht als vielmehr von den realen Finanzströmen entfernt worden sind, den Druck auf das föderale Zentrum und seinen Schützling aufgeben werden. Da sie nun einmal gezwungen waren, ihn offen zu demonstrieren, muss jetzt gekämpft werden.
Natürlich, für Moskau und die Administration des Präsidenten ist der Altai eine abgelegene Ecke, deren politischen Probleme und Wirren wohl kaum irgendwie das ganze Land negativ beeinflussen. Vom Prinzip her ist auch Kalmückien weder eine große elektorale Region noch ein Spitzenreiter hinsichtlich der Wirtschaft. Und deshalb wird man auch dort, wie anzunehmen ist, die Klärung der Situation der gegenwärtig herrschenden Gruppe überlassen. Wie Experten, die sich konkret mit dem Kalmückien-Case befassen, gegenüber der „NG“ erinnerten, hatte die politische Krise dort bereits vor einem Jahr begonnen, nachdem Chassikow den Versuch unternommen hatte, Dmitrij Trapesnikow aus der Donezker Volksrepublik ins Amt des Bürgermeisters von Elista (der Hauptstadt von Kalmückien – „NG“) zu hieven. Damals war auch die erste massenhafte Protestbewegung „Elista ist unsere Stadt“ entstanden, zu deren mehreren Meetings jeweils 4500 bis 5000 Menschen gekommen waren. Und bei ihnen war auch erstmals die Losung nach einer Absetzung von Chassikow an sich laut geworden.
„Die Ursache für das Entstehen einer Abgeordneten-„Opposition“ ist eine recht simple. Dies sind die Willkür des Hural-Vorsitzenden Anatolij Kosatschko und der Arbeitsstil des Leiters der Administration des Oberhaupts von Kalmückien, Tschingis Berikow (mit dem Spitznamen „Beria“)“, erläuterte ein Experte. Diese Beamten halten viele für die realen Herren von Kalmückien, die über Chassikow praktisch eine vollständige Kontrolle erlangten. Berikow ist ein Vertreter des Clans der „Jaschkul-Torguten“, einer ethnischen Landsmannschaft. Und aus dieser lobbyierte er aktiv Vertreter für unterschiedliche Funktionen und Ämter, womit er das Kräftegleichgewicht und die Balance der Interessen zerstörte. Kosatschko hat hinsichtlich der Abgeordneten auch etwa solch einen rigorosen Stil gewählt.
Es gibt auch objektive Ursachen für die Krise, merkte ein Gesprächspartner der „NG“ an: Dies ist die Gefahr eines Kollapses in der Viehwirtschaft aufgrund der Trockenheit und der Heuschreckenplage, was einen massenhaften Ruin der Landwirte bedeutet. Außerdem ist da das Umsichgreifen der COVID-19-Pandemie bei einem äußerst geringen Niveau des Gesundheitswesens. Im August und September hatte Chassikow jedoch gegenüber Moskau berichtet, dass die Krankheit sozusagen fast besiegt sei, was eine negative Reaktion der Bürger auslöste. „Chassikow hat den sehr großen Vertrauenskredit eingebüßt und ist jetzt einfach bemüht, seine Amtszeit als Gouverneur abzusitzen. Das Warten auf seinen Rücktritt ist beinahe zur wichtigsten emotionalen Erscheinung in der Republik geworden. Schon keiner erwartet von Chassikow irgendwelche positiven Veränderungen. Alle hoffen nur, dass es unter seinem Nachfolger nicht schlimmer wird“, unterstrich der Experte.
Es sei daran erinnert, dass die Entsendung von Gouverneuren-Technokraten – meistens entweder vollkommene Newcomer und Aufoktroyierte oder Personen, die eine indirekte Beziehung zum Dienstort haben – als Vertreter des Präsidenten in die Regionen schon drei Jahre praktiziert wird. Die entsandten Personen befinden sich ein halbes bis ein ganzes Jahr im Status eines amtierenden Regionalchefs und siegen dann bei den Wahlen mit einem Ergebnis von 60 bis 70 und mitunter gar auch mit 80 Prozent der Wählerstimmen. Das föderale Zentrum schaut auf dies und erweckt den Anschein, dass alles normal sei. Weiter aber beginnen unterschiedliche Geschichten. Der eine oder andere der Gouverneure wird real mit seinen Aufgaben fertig, während andere das Amt für nicht mehr als eine Bürde halten. Wenn dies zu allem Unglück auch noch ein nationales Gebilde ist, so reift schnell eine Krise heran. Es sei angemerkt, dass dafür sowohl in Kalmückien als auch im Altai ein Jahr gereicht hat. Und jetzt muss sich der Kreml Gedanken machen, was tun mit diesen beiden depressiven Regionen, wo sich die sozial-ökonomischen Probleme mit den ethnischen Kränkungen der Eliten vermischt haben, und mit den vielen anderen Subjekten der Russischen Föderation, wo es möglicherweise auch keinen nationalen Faktor gibt, aber dennoch eine Situation mit der Suspendierung lokaler Gruppierungen besteht.
Alexej Kurtow, Präsident der Russischen Vereinigung der Polit-Berater, erinnerte die „NG“ daran, dass „die staatliche Leitung keinerlei generelle Vorgehensweise duldet. Man muss ausgehend von den Problemen vor Ort handeln“. Und er ist der Auffassung, dass die Herrschenden im Grunde genommen auch so agieren. „Bevor eine Person ernannt wird, werden sicher Untersuchungen vor Ort, soziologische Erhebungen vorgenommen. Dennoch aber werden die Entsendeten des Kremls gewählt. Das heißt, sie versichern sich der Unterstützung der einheimischen Bevölkerung. Mitunter stimmen für sie um die 90 Prozent. Daher sind sowohl Chassikow als auch Chorochordin wohl kaum zufällige Leute. Es gab irgendwelche Gründe dafür, dass man gerade sie in die Regionen entsandte.“ Der Expert unterstrich, dass die Ernennung für nationale Regionen im Kreml so ablaufe: Da, wo noch seit den Sowjetzeiten die Tradition herrschte, ein Oberhaupt der Titularnation zu entsenden, wird dies auch fortgesetzt. Aber dort, wo die Hauptethnie in der Minderheit ist und Russen den Großteil der Einwohner ausmachen, hat sich solch eine Praxis nicht herausgebildet. Woran es der Regionalpolitik nach Meinung von Kurtow mangele, sei ein sicheres Prognostizieren zumindest für ein bis zwei Jahre. „Der Widerstand der einheimischen Eliten ist völlig natürlich. Es hat ihn gegeben, und es wird ihn stets geben. Mit den neuen Informationskanälen wird dies jetzt einfach sehr schnell bekannt. Mitunter gibt es auch keinerlei Krise, sondern eine laute Berichterstattung um einen lokalen Konflikt. Früher hat es dies alles auch gegeben. Man musste bloß große Ressourcen einsetzen, damit dies bekannt wurde“, beschrieb Kurtow das Wesen der sich abspielenden Ereignisse sowohl in Kalmückien als auch im Altai.
Der Chef der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow erläuterte gegenüber der „NG“: „In der Regel haben die nationalen Eliten die stärksten Proteststimmungen. Aber sie ins Kalkül ziehen oder nicht, entscheidet das föderale Zentrum ausgehend von deren Kräften. Meistens, wenn die Russen in einer Region die Mehrheit ausmachen, schickt man keinen Vertreter der Titularnationalität als Oberhaupt. Im Altai beispielsweise machen die Bergaltai-Bewohner eine Minderheit aus. Sie sind aber gerade die unzufriedensten. In Udmurtien und in der Komi-Republik hat die Nationalität der Regionalchefs auch keine Bedeutung. „In Kalmückien fand man einen bekannten und populären Mann und fing an, ihn dank dem Team für die Region anzupassen. Aber das klappt nicht. Dies sind die Schwächen und Mängel der Personalpolitik des Kremls. Denn bei der Ernennung lösen alle im Großen und Ganzen kurzfristige Aufgaben. Und das Problem besteht nicht in der Nationalität, sondern darin, dass es den Ernannten, den jungen Technokraten, gerade an politischen Fertigkeiten mangelt. Sie können bekannte Menschen sein, Sportler, doch man hat ihnen nicht beigebracht, politische Entscheidungen zu treffen. Ja, und es mangelt auch an Fertigkeiten der Kommunikation und des politischen Kampfes“, erzählte der Experte. Dabei erläuterte er, dass ungeachtet dessen, dass die Herrschenden den Kandidaten eine Ausbildung organisieren würden, sie keine Erfahrungen für ein Absolvieren von Wahlen mit Konkurrenten hätten. Allein Schulungsprogramme würden keine effektive Arbeit in der Region garantieren. „Daher muss, selbst wenn die Wahlen aufgrund der Neuartigkeit auch glatt verlaufen, nach ein, zwei Jahren doch hinsichtlich der Angelegenheiten Rechenschaft abgelegt werden. Und es ergeben sich Probleme gerade infolge eines Zusammenbrechens von Hoffnungen und einer einsetzenden Enttäuschung“, merkte Kalatschjow an. Seiner Meinung nach ist das Geschehen, was Chassikow und Chorochordin angeht, „ein Urteil gegen sie als Oberhäupter (ihrer Regionen – „NG“). Sie kontrollieren nicht die Situation auf dem Territorium“.