Der politische Prozess in Russland verläuft in Richtung einer Vereinfachung. Die Herrschenden sehen offensichtlich keinen Sinn in der Anbahnung einer Kommunikation mit der Nicht-System-Opposition. Aus den Regionen kommen ständig Nachrichten über die Vorbereitung oder bereits laufende Aufklärung von Strafsachen gegen Nichteinverstandene. Das Arsenal für Repressalien ist ein umfangreiches, doch die populärsten Instrumente sind eine Bestrafung aufgrund der Zusammenarbeit mit einer unerwünschten Organisation oder ein mehrfacher Verstoß gegen das Gesetz über Meetings. Beispielsweise wird man den Geschäftsmann aus Nishnij Nowgorod Michail Ioseljewitsch, der einst lediglich als „Whisky-Schenk der Kirche des Fliegenden Spaghetti-Monsters“ bekannt war, jetzt gerade wegen einer Verbindung mit Michail Chodorkowskij verurteilen. Und betroffen sind nicht nur Liberale. In Bezug auf den Führer der „Linken Front“, Sergej Udalzow, hat ein Gericht die Verwaltungsaufsicht aufgrund seiner „sozialen Gefährlichkeit“ nicht aufgehoben.
Aus der Verwaltungsregion Chabarowsk kam die Nachricht über den Beginn einer Prüfung vor Einleitung eines möglichen Strafverfahrens gegen den Oppositionellen Alexander Prikhodko. Ihm droht eine Anklage entsprechend dem Art. 212.1 des Strafgesetzbuches – „Mehrfacher Verstoß gegen die Regeln für die Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung“. Prikhodko war am 10. Oktober zusammen mit noch mehreren Personen festgenommen worden. Allem nach zu urteilen steht in der Region, die die letzten drei Monate als eine „von Polizeiwillkür freie“ galt, ein Massenstrafprozess entsprechend dem berüchtigten „Dadin“-Artikel des Strafgesetzbuches bevor. Denn dort sind in der letzten Zeit eine große Anzahl von Protokollen in Bezug auf festgenommene Kundgebungsteilnehmer ausgestellt worden.
Das heißt, die Anforderung des Gesetzes über das Begehen eines Rechtsverstoßes mehr als dreimal innerhalb eines halben Jahres durch eine Person wird dieses Mal durch die Rechtsschutzvertreter exakt eingehalten.
Es sei daran erinnert, dass als erster aufgrund mehrfacher Festnahmen im Verlauf von Mahnwachen und anderer Aktionen im Jahr 2015 der Bürgeraktivist Ildar Dadin verurteilt worden war. Gerade hinsichtlich seines Falls gab es eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, wonach eine strafrechtliche Verfolgung nicht nur aufgrund formaler Erwägungen beginnen kann. Es muss nachgewiesen werden, dass die Handlungen der jeweiligen Person eine reale Gefahr für die Gesellschaft darstellten oder zumindest das entsprechende Potenzial hatten. Seitdem schreiben die Vertreter der Rechtsschutzorgane in ihren Materialien auch so etwas: Nun, er stand mit einem Plakat da, womit er die Verfassungsordnung untergrub sowie das Leben und die Gesundheit der Bürger, aber auch die Unversehrtheit ihres Eigentums gefährdete.
Mit solchen Formulierungen wurden bereits mehrere Personen verurteilt. Aber hinsichtlich einer von ihnen, in Bezug auf Konstantin Kotow, hat es eine erneute, das heißt eine wirklich beispiellose Entscheidung des Verfassungsgerichts gegeben, das wiederholte, dass echte Beweise nötig seien. Dieser wurde durch die Behörden und Gerichte ignoriert, so dass das Verfassungsgericht jetzt mit seiner Meinung keinen Rummel macht. Und deshalb entwickelt sich – sagen wir einmal – die Strafsache gemäß Artikel 212.1 gegen die hauptstädtische Stadtbezirksabgeordnete Julia Galjamina entsprechend dem eingefahrenen Mechanismus bereits ungehindert.
Während man den „Dadin“-Artikel noch irgendwie beweisen muss, werden die Straffälle gemäß Artikel 284.1. des Strafgesetzbuches – Teilnahme an der Tätigkeit einer Organisation, die auf dem Territorium der Russischen Föderation als eine unerwünschte anerkannt wurde – überhaupt ohne Mühen zusammengeschustert. Da das Medien- und Netzwerk-Imperium Chodorkowskij ein recht ausgedehntes ist, kann man praktisch bei jedem beliebigen Oppositionellen entweder eine Erwähnung von „Open Russia“ oder einen Repost von deren Internetseiten oder noch irgendeine indirekte Zusammenarbeit mit ihm finden. Gerade so ist der Geschäftsmann Ioseljewitsch aus Nishnij Nowgorod unter diesen Artikel geraten. Er sponsort die Kirche der sogenannten Pastafari, das heißt der Adepten der Religion des Fliegenden Spaghetti-Monsters. Ioseljewitsch hatte es gewagt, Lektoren zu sich zu lassen, die vor den Wahlen Beobachter geschult hatten. Und ein Teil von ihnen stand, wie sich herausstellte, mit „Open Russia“ in einer Verbindung. Im Ergebnis dessen kann man in den Materialien zu Ioseljewitsch die Formulierungen nachlesen, dass die Ausbildung von Wahlbeobachtern vom Wesen her eine Gefahr für die Verfassungsordnung der Russischen Föderation geschaffen hätte.
Die Herrschenden kommunizieren nicht nur mit den liberalen Nichteinverstanden mittels Repressalien. Sergej Udalzow – ein Vertreter der linken radikalen Kräfte – erhielt dieser Tage eine Ablehnung hinsichtlich der Aufhebung der administrativen Aufsicht über ihn. Der offizielle Grund: Fortsetzung von „ungesetzlichen Handlungen“ durch ihn und dessen gewisse „soziale Gefährlichkeit“. Derweil ist eine andere linke Partei – die KPRF – allem Anschein nach doch dem Damoklesschwert der Verfolgungen entkommen. Im Verlauf des Online-Treffens von Präsident Wladimir Putin mit den Führern der Duma-Parteien war beispielsweise gut auszumachen, dass das Staatsoberhaupt beschlossen hat, den „Krim-Konsens“, der einen Nichtangriffsvertrag zwischen den Herrschenden und der System-Opposition darstellt, in der bisherigen Gestalt zu bewahren. Für die Nichteinverstandenen bedeutet dies nur eins: Jetzt wird die ganze Kraft der Maschine der Rechtsschützer gegen sie zum Einsatz kommen.
Konstantin Kalatschjow, Leiter der Politischen Expertengruppe, bestätigte gegenüber der „NG“: Anhand der Ergebnisse des jüngsten Treffens des Präsidenten mit den Führern der Duma-Parteien könne man resümieren, dass die System-Opposition ihren Status quo bewahrt hat. „Es erklangen Standardreden, dass wir alle ein großes Land sind, und die gemeinsame Sicht auf die Situation vereint uns“, erinnerte er. Der Experte merkte gleichfalls an, dass seitens der Herrschenden wiederum „Knickse gemacht wurden“: Die neuen Parteien würden ja wohl bei all ihrer Perspektiven kaum die Hürde in die Staatsduma nehmen. Und der Nicht-System-Opposition werde den letzten Ereignissen nach zu urteilen nach wie vor die Rolle eines Blitzableiters zuteilwerden. „Der harte Druck auf die Nicht-System-Opposition nimmt ständig zu. Ihn wird es auch weiter entsprechend dem Heranrücken der Duma-Wahlen geben. Die Herrschenden ergreifen Präventivmaßnahmen, damit die Vertreter der Nicht-System-Opposition nicht bei diesen Wahlen stören. Daher nutzt man diese Festnahmen und die Einleitung von Strafverfahren als demonstrative“.
Nach Meinung von Kalatschjow gebe es möglicherwiese dafür kein spezielles Kommando aus dem Kreml. Aber in den bewaffneten und Rechtsschutzorganen weiß man um solch eine Meinung der Herrschenden, dass es bei jeglichen Protesten nicht nur Trigger, sondern auch Anführer gibt. Und man müsse anstreben, sie zu neutralisieren. „Die Reden aus den hohen Kabinetten, aber auch die Verschärfung der Rhetorik der machttreuen Experten über die inneren und äußeren Feinde und die 5. Kolonne sind bereits zu einer Dominante der Politik geworden. Die Vertreter der bewaffneten und Rechtsschutzorgane nehmen sie zur Kenntnis, doch sie bekommen keine Zurechtweisung hinsichtlich ihrer Handlungen“, betonte der Experte. Er unterstrich, dass die Perspektiven solch einer gewaltsamen politischen Kommunikation nur für eine Zeit lang bestehen. „Es gibt nicht wenige Beispiele für eine Verschärfung des autoritären Regimes gegen die Opposition. Solch eine ist aber nur bei einem hohen Niveau des sozialen Wohlstands und des Allgemeinbefindens der Bevölkerung möglich. Jedoch ist jegliche Stabilität nur ein Abschnitt einer historischen Periode. Und bei einer Analyse stellt sie entweder einen Fortschritt oder eine Degradierung dar. Es ist offensichtlich, wenn sich das soziale Wohlbefinden weiter verschlechtert und folglich, wenn man die einen Anführer aus dem Weg räumt, werden unbedingt dutzende und hunderte neue auftauchen“.