Die Aktionen vom 23. Januar zur Verteidigung Alexej Nawalnys haben die Taktik seiner Anhänger gezeigt, die augenscheinlich den spontanen Protest in ein „weißrussisches Format“ permanenter Meetings überführen werden. Dies soll einer Radikalisierung der elektoralen Stimmungen und dem Zusammenschluss der Nichteinverstandenen unter einer einheitlichen Führung dienen. Experten zweifeln vorerst an einem Erfolg solch einer Idee. Für die Herrschenden wurden zur Bilanz der Aktionen Materialien für das Initiieren einer großen Strafsache – salopp gesagt: einer „Palast“-Angelegenheit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Vertreter der Rechtsschutzorgane darauf bestehen, wobei sie darauf verweisen, dass die informationsseitige Einflussnahme auf die Opposition floppte. Die Staatspropaganda hatte vor allem nicht den jungen Protestierenden durch das „Kinder-“ Thema Angst eingejagt. Und die Anspielungen und Andeutungen in Bezug auf die „Volksfeinde“ und Agenten des State Departments ignoriert die neue Generation scheinbar. Die Schwachstelle der Offiziellen besteht darin, dass sie selbst daran glauben und die sozial-ökonomischen Grundlagen der gegenwärtigen Zunahme des Unmutes der Menschen ignorieren.
Laut einer Statistik des Projekts 2OVD-Info“ sind bei den Aktionen vom 23. Januar über 35.00 Menschen festgenommen worden, darunter etwa anderthalbtausend in Moskau und über 500 in Petersburg. Mehr als 100 Festgenommene hat es in Kasan gegeben, etwas weniger in Nowosibirsk, Woronesch und Nishnij Nowgorod. Chabarowsk, auf das man wie auf einen Gradmesser für das gesamte Russland außerhalb der Hauptstadt geblickt hatte, meldete 65 Festnahmen. In den anderen, und die Anhänger Nawalnys erklärte, dass ihre Aufrufe in mehr als 100 Städten des Landes erhört worden seien, lag die Zahl der Festgenommen im Bereich von knapp 50 und weniger.
Während die letzten Protestierenden in der Umgebung der hauptstädtischen U-Haftanstalt „Matrosenstille“, wo Nawalny eine Quarantäne durchläuft, der Polizei entkamen, gab der Koordinator der regionalen Nawalny-Stäbe Leonid Wolkow bekannt, dass die nächsten Aktionen am Sonntag, dem 31. Januar (ab 12.00 Uhr Ortszeit) stattfinden werden. Die Medienressourcen der Nawalny-Anhänger nennen bisher keine Treffpunkte, doch bezeichnend waren Informationen aus Wladiwostok am Sonntag. Der dortige Nawalny-Stab erklärte, dass alle Aufrufe, am 24. Januar auf die Straßen zu kommen, Provokationen seitens der Herrschenden seien. Somit wird klar, dass die Anhänger des bedeutendsten Oppositionspolitikers der Russischen Föderation beschlossen haben, den jetzigen, vorerst noch spontanen Protesten einen weißrussischen Charakter zu verleihen. Es ist verständlich, dass dies wenig mit den Forderungen nach einer Freilassung Nawalnys gemein hat. Mehr noch: Die Aktionen direkt am Vorabend der für den 2. Februar angesetzten Gerichtsverhandlung gegen ihn (zur Umwandlung seiner Bewährungsstrafe im Fall „Yves Rocher“ in eine reale Haftstrafe – Anmerkung der Redaktion) werden eher zu einer Inhaftierung denn einer Freilassung des Leaders führen.
Jedoch hat in der Perspektive der bevorstehenden Wahlen, zu denen man die elektorale Atmosphäre gut aufheizen, aber auch die Oppositionskräfte maximal zusammenschließen muss, die weißrussische Taktik ihre positiven Seiten. Der 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien Alexej Makarkin ist aber der Auffassung, dass „in Russland eine andere Situation als in Weißrussland herrscht. Dort ist der Protest gegen Lukaschenko breiter. Ja, und der Verschleiß der Herrschenden ist größer, tiefgreifender und stärker“.
Der Experte betonte, dass mehrere Faktoren gegen eine Verleihung eines weißrussischen Charakters, einer Weißrussifizierung der Proteste wirken würden. Beispielsweise würden die Weißrussen der Geopolitik keine Beachtung schenken. In ihnen gebe es kein imperiales Gefühl. Die urbanisierte Jugend wolle einfach wie in den Nachbarländern Polen und Litauen leben. Die Russen hätten im Großen und Ganzen keine solche Herangehensweise. Ja, und auch das Niveau der Proteststimmungen und -bereitschaft in Russland sei doch geringer. „Den Protest kupiert beim älteren Teil der Bevölkerung die Angst vor den 90er Jahren. In Minsk aber kommen auch Rentner massenhaft zu den Aktionen.“ Das heißt, wie Makarkin annimmt, dass die Proteste fortgesetzt werden können, aber gerade entsprechend konkreter Anlässe, die mit Nawalny in einem Zusammenhang stehen. Und danach wird es zur Duma-Wahlkampagne kommen, bei der die Protestierenden bereits eine Registrierung von Kandidaten fordern können. Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow erklärte gegenüber der „NG“, dass es den Anhängern Nawalnys durchaus gelingen könne, entsprechend dem weißrussischen Szenario zu protestieren. Dies sei aber sinnlos. „Durch die Häufigkeit der Veranstaltungen kann man den Protest nur dämpfen, Dampf ablassen und die Bewegung verwässern.“ Der Experte ist gleichfalls der Meinung, dass es effizienter wäre, entsprechend konkreter Anlässe zu protestieren, zum Beispiel zu den Ergebnissen des Urteils gegen Nawalny oder im Sommer, im Verlauf der Duma-Wahlkampagne.
Während die Taktik der Opposition vom Prinzip her klar wird, sind die Aktionen der Herrschenden vorerst nur im Potenzial auszumachen. Am 24. Januar kamen aus vielen Regionen Mitteilungen über Festnahmen von Koordinatoren der Nawalny-Stäbe. Es ist bereits klar, dass bei den nächsten Aktionen die meisten von ihnen nicht dabei sein werden. Und folglich werden die Proteste wieder nichtkonzentrierte. Gerade dies hilft den Vertretern der Rechtsschutzorgane, Materialien für künftig mögliche Strafsachen zusammenzutragen, die, wenn es dazu eine politische Entscheidung geben wird, zu einer „Palast-Strafsache“ ausufern können. In einer Reihe von Medien ist bereits eine Liste von scheinbar eingeleiteten Strafverfahren aufgetaucht. Es ist aber zu spüren, dass dies alles nicht mehr als lokale Erscheinungen sind. Mehr noch, es stellte sich heraus, dass – sagen wir einmal in Petersburg, wo die Hitze der Leidenschaften den Moskauern fast nicht nachstand – man den meisten Festgenommenen lediglich Strafbescheide wegen eines Verstoßes gegen die COVID-restriktionen ausstellte.
Derweil hat der 23. Januar den Flopp der Narrative der staatlichen Propaganda gezeigt. Zu den Protestaktionen waren anstelle der erwarteten Minderjährigen Studenten und Jugendliche gekommen. Übrigens, auf dem Telegram-Kanal des Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM ist nicht nur diese Untersuchung gepostet worden, sondern auch noch eine andere, die mit Geldern eines staatlichen Zuschusses durchgeführt worden war. In der wurde ermittelt, dass auch wenn gerade Nawalny die Proteste der letzten Jahre organisiert, deren Teilnehmer zwar den Pathos der Bekämpfung von Korruption als Hauptübel teilen, aber überhaupt keinerlei antirussische Stimmungen unterstützen. Mehr noch, sie sind Anhänger einer Entwicklung des Landes. Das heißt, auch die Behauptungen über angebliche Agenten des US-Außenministeriums haben sich ebenfalls nicht bestätigt. Allerdings schenkt die heutige junge Generation derartigen Klischees fast scheinbar keine Beachtung und verwandelt sie in Mems.
Jedoch ist — sagen wir einmal — Makarkin der Annahme, dass die Herrschenden eine Perspektive hätten, um die Protestierenden – auch wenn es Jugendliche sind – gerade als Feinde des Landes darzustellen. Einfach weil die Offiziellen und die Opposition jetzt zu Argumenten aus den Zeiten der Dissidenten übergegangen seien. Und der Experte pflichtet dennoch nicht dem bei, dass die Menschen am 23. Januar aufgrund der Verschlechterung des Lebensniveaus auf die Straße gegangen seien. „Wenn sich die sozial-ökonomische Situation verschlechtert, bleiben viele gerade zu Hause, haben Angst, die Arbeit zu verlieren.“ Kalatschjow aber nimmt an, dass die Menschen nicht so sehr wegen Nawalny massenhaft auf die Straßen gekommen seien, sondern gegen die sozial-ökonomische Krise, aufgrund des Gefühls, dass das Land in eine Sackgasse geraten sei. „Das heißt, es ist zu einer Synergie des Protests gekommen. Bei einer Negierung dieses Phänomens werden die Herrschenden im Weiteren Probleme erwarten. In dieser Situation haben sie zwei Wege – Sorge über die Bürger zu demonstrieren und ihnen irgendein Zukunftsbild zu zeichnen oder doch die Protestierenden dessen zu bezichtigen, dass sie Feinde sind.“ Der Experte befürchtet, dass die zweite Variante angenommen werde, denn „es erfolgt eine vollkommene Simplifizierung des politischen Lebens. Es gibt „wir“ und „die“, die „Patrioten“ und die „Feinde“.