Nach vielen Verurteilten hat es auch jene in die Zone der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine gezogen, die wegen Straffällen – vor allem wirtschaftlicher Art — verdächtigt und angeklagt werden. Wobei ihnen weder eine mögliche Verletzung bis hin zu einer Invalidität noch ein Tod Angst macht. So ist dort jüngst Rustjam Abuschajew, der Bürgermeister der im russischen Fernen Osten gelegenen Stadt Bolschoi Kamen, aufgetaucht, nach dem aufgrund des Vorwurfs eines Betrugs mit Grundstücken im großen Umfang gefahndet wird. Zuvor hatten sich in der Zone der Kampfhandlungen auch andere hochkarätige mögliche Straftäter „aufgefunden“. Zum Beispiel der hauptstädtische Manger Alexander Daguza, der 24 Millionen Dollar durch eine angebliche Bezahlung von Baumaterialien in die Türkei gebracht hat, aber auch der frühere Minister für die Verwaltung staatlichen Eigentums des Swerdlowsker Verwaltungsgebietes, Alexej Pjankow, der eines Missbrauchs seiner Vollmachten, Bestechlichkeit und der Bereicherung durch die Aneignung staatlichen Eigentums in einem besonders großen Umfang (der Schaden wird von der Staatsanwaltschaft mit über 500 Millionen Rubel angegeben) angeklagt wird. Der Wunsch, ungestraft durch eine Teilnahme an der seit mehr als 420 Tage andauernden militärischen Sonderoperation davonzukommen, ist damit zu erklären, dass seit dem 15. November vergangenen Jahres nur die Bürger nicht für den Wehrdienst im Rahmen einer Mobilmachung eingezogen werden dürfen, die eine bestehende Vorstrafe aufgrund schwerer Sexualverbrechen gegen Minderjährige, aufgrund terroristischer (gemäß den Paragrafen 205 bis 208 sowie 220 und 221 des Strafgesetzbuches), aber auch aufgrund von Straftaten gegen die Grundlage der Verfassungsordnung und die Sicherheit des Staates (Paragrafen 275-279 des StGB) besitzen.
Wenn man sich einer Analyse des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation zuwendet, so enthält das Kapitel 11 keine solche Grundlage für eine Freistellung von einer strafrechtlichen Haftung wie die Teilnahme an einer militärischen Sonderoperation, als die der russische Ukraine-Krieg im offiziellen Sprachgebrauch bezeichnet wird. Mehr noch, der Paragraf 76.1 des StGB weist direkt aus, dass die Personen, die erstmals einzelne Wirtschaftsverbrechen begangen haben, von einer Haftung nur im Fall einer vollständigen Wiedergutmachung des Schadens, der einem Bürger, einer Organisation oder dem Staat zugefügt wurde, und einer Überweisung einer Geldsumme im zweifachen Umfang des zugefügten Schadens an den föderalen Haushalt befreit werden. Das heißt: Es wird dem Angeklagten offenkundig nicht gelingen, einfach so einem Prozess zu entgehen.
Die Abgeordneten des Regionalparlaments des Verwaltungsgebietes Tscheljabinsk sind jedoch einer anderen Meinung und haben der Staatsduma (dem russischen Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) vorgeschlagen, die Strafprozessordnung der Russischen Föderation durch den neuen Paragrafen 25.2 zu ergänzen, der erlauben soll, Freiwillige für die militärische Sonderoperation – ob nun der Verübung von Straftaten geringer oder mittlerer Schwere verdächtigt oder angeklagt — von einer strafrechtlichen Haftung zu entbinden. Ein Richter, Staatsanwalt, aber auch Untersuchungsbeamter (Ermittler) soll mit Zustimmung des zuständigen Staatsanwalts berechtigt sein, ein Strafverfahren im Zusammenhang mit einer Veränderung der Situation einzustellen, wenn die Verdächtigen bzw. Angeklagten beschließen, einen Dienst in Militäreinheiten zu leisten. Entsprechend dem Paragrafen 15 des StGB wird als eine Straftat geringer Schwere die Tat anerkannt, für die die Bestrafung keine drei Jahre überschreitet, und als eine Straftat mittlerer Schwere – keine fünf Jahre Freiheitsentzug. Solche Straftaten machen im Wirtschaftsblock (Kapitel 22 und 23) des StGB gut die Hälfte aus. Unter ihnen können sich durchaus solche wenig harmlosen Taten wie eine illegale Herstellung von Äthyl-Spiritus und alkoholischer Erzeugnisse, eine unrechtmäßige Insolvenz, Missbräuche im Bereich der staatlichen Einkäufe und vorsätzlich falsche Gutachten eines Experten in diesem Bereich, der Missbrauch von Vollmachten bei der Erfüllung des staatlichen Rüstungsauftrages und eine Verletzung von Bedingungen staatlicher Verträge in diesem Bereich, aber auch eine ganze Reihe eigennütziger Straftaten wiederfinden.
Die Tscheljabinsker Gesetzgeber wiesen in einem Erläuterungsschreiben darauf hin, dass bereits Bürger für einen Militärdienst gewonnen werden, die Straftaten begangen haben (laut Aussagen von Jewgenij Prigoschin, des Chefs der Söldnerfirma „Wagner“, haben über 5.000 Häftlinge eine Begnadigung nach Beendigung ihres 6-Monate-Vertrages erhalten), und erkannten die Möglichkeit eines Bereuens der eigenen Schuld durch den jeweiligen Bürger gegenüber der Gesellschaft und dem Staat durch ein freiwilliges Absolvieren eines Dienstes in Militärformationen an. Die Einführung der Möglichkeit einer Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung in Bezug auf Verdächtige oder Angeklagte werde der Strafrechtspolitik des Staates unter den Bedingungen der Durchführung der Sonderoperation entsprechen. Wie jedoch berechtigt die Anwaltsgemeinschaft betont, sei im Gesetzentwurf der Tscheljabinsker nicht die Form einer Fixierung der gefällten Entscheidung über das Ableisten eines Militärdienstes festgeschrieben worden. (Offensichtlich ist dies der mangelnden Kompetenz der Volksvertreter geschuldet. – Anmerkung der Redaktion) Offen bleibe die Frage darüber, ob die Absicht in Form einer Erklärung ausreichend sei oder ist die Vorlage eines bereits unterschriebenen Vertrags vorgesehen. Unklar ist, ob die Dauer des Vertrages und die minimale Dienstzeit irgendeine Bedeutung besitzen. Ungeregelt sind die Folgen eines Rücktritts des Verdächtigen (Angeklagten) von der gefällten Entscheidung. Ziehen nicht die Lösung des Vertrages, Fahnenflucht oder eine Verwundung eine Wiederaufnahme der strafrechtlichen Verfolgung nach sich?
Es ist verständlich, dass bei weitem nicht alle Betrüger und Gauner im Falle einer Annahme dieses Gesetzentwurfs zu den Untersuchungsrichtern mit einem Antrag auf eine Entsendung in die Zone der militärischen Sonderoperation losstürzen werden, um einer Haftung für das Begangene zu entgehen. Jedoch ist solch eine Perspektive nicht auszuschließen, zumal die in den Medien auftauchenden Beispiele uns anschaulich davon überzeugen. In solch einem Fall bleibt die Frage nach einer Wiedergutmachung des angerichteten materiellen Schadens durch sie in einem Schwebezustand. Genauso wie auch das Schicksal der Zivilklagen gegen sie seitens der Betroffenen. Entsprechend dem föderalen Gesetz Nr. 603-FG vom 29. Dezember 2022 ist das Gericht verpflichtet, die Behandlung zu Verfahren von Teilnehmern der militärischen Sonderoperation einzustellen. Und die Gerichtsvollzieher – die Vollstreckungsverfahren.
Bemerkenswert ist, dass die Befreiung einer Person, die erstmals eine Straftat geringer bzw. mittlerer Schwere begangen hat, von einer Bestrafung im Zusammenhang mit einer Veränderung der Situation bereits durch den Paragrafen 80.1 des StGB der Russischen Föderation vorgesehen und durch das Bestehen von zwei Umständen beeinflusst wird. Erstens kann die Veränderung der Situation dazu führen, dass die begangene Straftat ihre gesellschaftliche Gefährlichkeit verliert. Und zweitens – zu einem Verschwinden der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Person, die der Verübung der jeweiligen Straftat für schuldig befunden wurde (Entscheidung des Gerichtskollegiums für Straffälle des Obersten Gerichts der Russischen Föderation Nr. 55-007-22 vom 14.02.2008). Die Freistellung von einer Bestrafung gemäß Paragraf 80.1 des StGB der Russischen Föderation erfolgt durch ein Gericht in Form eines Beschlusses für einen Schuldspruch ohne die Festlegung einer Bestrafung (Pkt. 3 des Teils 5 des Paragrafen 302 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation). Der unbedingte Charakter dieser Grundlage für eine Freistellung von einer Bestrafung besteht darin, dass die vom Gericht gefällte Entscheidung eine endgültige ist und nicht von der Festlegung irgendwelcher Forderungen gegenüber dem Angeklagten begleitet, aber auch nicht von dessen weiterem Verhalten abhängig gemacht wird.
Bilanzierend bleibt hinzuzufügen, dass die Gewährung derartiger strafrechtlicher Präferenzen für einzelne Gruppen von Straftätern sowohl dem Prinzip der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz (Paragraf 4 des StGB der Russischen Föderation) als auch den Aufgaben des Strafgesetzbuches (Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers sowie seines Eigentums vor kriminellen Übergriffen, aber auch die Vorbeugung von Straftaten) widerspricht. Schließlich ist es bei weitem keine Tatsache, dass eine „freiwillige“ Teilnahme an der Sonderoperation dazu angetan ist, einen Straftäter zur Vernunft zu bringen, indem er vor der Verübung neuer Straftaten zurückgehalten wird, besonders im Falle einer posttraumatischen geistigen Störung.
Post Scriptum:
Schaut man sich die Zahlen der Verluste der Söldnerfirma „Wagner“ an, die im Februar John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, nannte, ist wirklich fraglich, ob eine Teilnahme an der militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine die Gelegenheit ist, auf freien Fuß zu gelangen oder einer Bestrafung aufgrund von Straftaten zu entgehen. Kirby erklärte, dass die Firma seit dem 24. Februar vergangenen Jahres im Konflikt in der Ukraine über 30.000 Mann verloren hätte. Darunter sollen 9000 Tote gewesen sein. Inwieweit diese Zahl der Realität entspricht, kann nicht überprüft werden. Freilich deutete „Wagner“-Chef Prigoschin am 17. April an, dass allein bei den Kämpfen in Bachmut seine Firma täglich bis zu 20 Tote und etwa 40 Verwundete hinnehmen müsse.
Und noch etwas sei zur Geheimhaltung Russlands um die Verluste und die Kriminellen, die im Dienst der Söldnerfirma „Wagner“ kämpfen, angemerkt. Die Präsidenten-Erlasse zur Begnadigung nach Ableistung eines Mindestdienstes von sechs Monaten an der Front sind geheime Verschlusssache. Außerdem kursierten in russischen Medien vor einiger Zeit die Informationen, dass Prigoschin keine Strafgefangenen mehr anheuern könne. Dafür wurden die „Wagner“-Söldner Prigoschins jedoch vom russischen Verteidigungsministerium in der letzten Woche in den täglichen Lageberichten mehrfach erwähnt, obgleich dieses Praxis in dieser Woche bereits eingestellt wurde.