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Behörden wollen Chodorkowskij behindern


Der administrative Druck auf die Teilnehmer des Projekts „Vereinigte Demokraten“ (VD) nimmt zu. Man versucht, ihnen Rechtsverstöße zuzuschreiben, lädt sie vor, um in der Polizei Erklärungen zur Hilfe für Omas beim Holzhacken abzugeben. Das härtere Vorgehen setzte sofort nach dem Einreichen einer Klage im Obersten Gericht (OG) im Namen von 100 Kandidaten der VD zwecks Annullierung der dreitägigen Abstimmung bei den kommenden Regionalwahlen Mitte September ein. Am 27. August wies das OG diese ab. Bei den Behörden aber ist scheinbar ein Interesse für das neue Projekt von Michail Chodorkowskij geweckt worden. Experten betonen, dass, wenn der Kreml die VD als eine Probe für eine Teilnahme der Opposition an den Wahlen zur Staatsduma im Jahr 2021 ansehe, so werde man versuchen, deren Erfolg nicht zuzulassen.

Das Oberste Gericht hat den Kandidaten der VD das Recht verweigert, die dreitägige Abstimmung bei den Regionalwahlen im September dieses Jahres anzufechten. Dabei erklärte Anastasia Burakowa, Vorsitzende der Bewegung „Offenes Russland“, dass als Grund dafür ein merkwürdiger angeführt worden sei. Angeblich hätten die Nichteinverstandenen gegen einen Beschluss der Zentralen Wahlkommission Beschwerde geführt. Man erklärte ihnen aber, dass sie versuchen würden, ein Gesetz in Zweifel zu ziehen. 

Derweil hat sich nach Beobachtungen der „NG“ der Druck auf die Kandidaten der VD in den letzten Tagen in den Regionen verstärkt. So versucht man in Tatarstan, Jelena Isotowa, die an den Wahlen in der dörflichen Siedlung Osinowo als Kandidatin teilnimmt, aufgrund von Brennholz auszubooten. Am 27. August bestellte sie die Polizei ein, um Erklärungen hinsichtlich gewährter Hilfe beim Holzhacken abzugeben. Gleich drei Konkurrenten Isotowas hatten sich an die territoriale Wahlkommission mit einer Beschwerde gemäß Artikel 5.16. des Ordnungsstrafrechts (Bestechung von Wählern während einer Wahlkampagne) gewandt. Für das „Holzhacken“ begannen sich auch Mitarbeiter des lokalen Zentrums „E“ (Zentrum für Extremismus-Bekämpfung – Anmerkung der Redaktion) zu interessieren, die sich zuvor mit einer Überprüfung der Accounts von Isotowa in den sozialen Netzwerken hinsichtlich der Ermittlung von Aufrufen zu nichtgenehmigten Massenveranstaltungen befasst hatten. Dabei lebt die alleinstehende Oma, der sie geholfen hatte, gar nicht in ihrem Wahlbezirk. Isotowa erklärt, dass ihr Team auf die Schwierigkeiten der betagten Frau auf der Fahrt aus der Wahlkommission nach Erhalt des Kandidaten-Ausweises durch sie aufmerksam geworden sei.

Die Verwaltung des Gebietes Wladimir hat auf einmal beschlossen, sich mit der Regulierung des Konkurrenzkampfes bei den anstehenden Wahlen zum Stadtrat zu befassen. Bei den VD hob man hervor, dass die Rechtsschutzorgane versucht hätten, ein Ordnungsstrafverfahren gegen den Kandidaten Ilja Kosygin einzuleiten. Die Polizei hatte seine Teilnahme an einer Mahnwache zur Unterstützung von Chabarowsk (seit fast zwei Monaten protestieren dortige Einwohner zur Unterstützung des ehemaligen Gouverneurs Sergej Furgal, der wegen einer angeblich Beteiligung an mehreren Morden festgenommen wurde – Anmerkung der Redaktion) empört. Laut Mitteilungen der VD habe noch ein Kandidat – Kirill Ischutin – angefangen, Drohungen gegen seine Person zu erhalten. Eine ähnliche Situation erlebte auch Andrej Boikow, der für das Parlament des Verwaltungskreises Sobinka im Verwaltungsgebiet Wladimir kandidiert. „Er arbeitet in einer munizipalen Einrichtung in Sobinka. Die Ortsverwaltung nötigt ihn, seine Kandidatur unter Androhung einer Entlassung zurückzuziehen“, teilte man bei den VD mit. 

Im Verwaltungsgebiet Iwanowo verweigerte das Wolschskij-Kreisgericht der Ex-Kandidatin der VD, Irina Malzewa, gegen die Wahlkommission aufgrund dessen, dass man ihr die Kandidatur für die Wahlen entzogen hatte, Klage zu führen. Aber von Zeit zu Zeit erringen die VD auch Siege. In Tatarstan beispielsweise hatte sich das Gericht auf die Seite der Kandidatinnen Gulnaz Rawilowa und Yoldyz Muchamedzyanowa gestellt. Konkurrenten aus ihren Wahlkreisen, die den Behörden nahestehen, hatten Klage gegen sie geführt, um sie von den Kandidatenlisten zu streichen. Am 11. August hatte auch das Gericht von Laischewo Muchamedzyanowa die Kandidatur entzogen, doch am 26. August hat das Oberste Gericht der Republik diese Entscheidung aufgehoben. 

Einer der führenden Vertreter der VD, Andrej Piwowarow, berichtete über den Druck auf einen Kandidaten im Verwaltungsgebiet Wladimir: „Andrej Frolow ist Vorsitzender einer örtlichen Wohnungseigentümergemeinschaft und hilft schon seit mehreren Jahren Einheimischen im Kampf gegen ungesetzliche Handlungen der Behörden und staatlichen Unternehmen. Andrej ist zusammen mit einer Gruppe von Gleichgesinnten bereit, den Entwurf eines Gesetzes zum Übergang der kommunalen Wohnungswirtschaft von einer kommerziellen auf eine nichtkommerzielle Grundlage vorzulegen. Dies soll die Tarife reduzieren und die Qualität der zu erbringenden Leistungen erhöhen. Um seine Pläne zu verwirklichen, leitet Andrej mit Unterstützung unseres Projekts ein Team von zehn Menschen im Wahlkampf um einen Sitz im Abgeordnetenrat der Siedlung Stawrowo“. Ein lokaler Vertreter der Partei „Einiges Russland“ hat jedoch Frolow der Verleumdung bezichtigt und eine Anzeige bei der Polizei erstattet. Jetzt aber ist ein neuer Fall in Arbeit, der auch mit Ungereimtheiten im Bereich der kommunalen Wohnungswirtschaft zusammenhängt.

Nach Meinung von Experten war die Entscheidung des Obersten Gerichts über das Abweisen der Klage eine durchaus zu erwartende gewesen. Gleichzeitig aber haben die Offiziellen ihrer Auffassung nach dennoch beschlossen, sich hinsichtlich der Kandidaten der VD abzusichern. Und deshalb hat auch deren massive Verfolgung begonnen. 

Der Leiter der Politischen Expertengruppe, Konstantin Kalatschjow, ist der Annahme, dass, da „in den Augen des Kremls diese Kandidaten direkt oder indirekt mit Chodorkowskij verbunden sind, ihre Teilnahme am einheitlichen Wahltag-2020 wie eine Probe vor den föderalen Wahlen-2021 aussieht“. Nach Aussagen des Experten wünsche man ihnen im Präsidialamt ganz bestimmt keinen Erfolg. Und die Demonstration eines Widerstands gegen sie sei für die regionalen und lokalen Behörden und Offiziellen ein Anlass, in den Augen der Föderalen zusätzliche Punkte zu sammeln. Ergo „werden die Probleme für diese Kandidaten zunehmen“. Obgleich dies auch vor der Klage im Obersten Gericht Gegner gewesen seien, wie Kalatschjow anmerkte. Aber „die Klage konnte zu einem Trigger werden, zu einem Anlass, sich noch einmal die Situation mit diesen Kandidaten in den Regionen anzuschauen“. Und für die Offiziellen sei oft selbst die Anfrage – was ist dort bei euch los? – ein ausreichender Beweggrund für Handlungen. 

Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für Polit-Technologien, erläuterte der „NG“, dass das Einreichen der Klage im Obersten Gericht auch nicht mit einer Verstärkung des Drucks auf die Kandidaten der VD in Verbindung stehen könne. „Dass die Klage am Dienstag eingereicht wurde und am folgenden Tag der Widerstand zugenommen hat, kann auch ein Zufall sei. Danach bedeutet nicht als Folge. Die Staatsmaschinerie ist sehr schwerfällig. Unterschiedliche Handlungen erfolgen dort nicht sofort, sondern werden vorab geplant.“ Der Experte betonte, dass jetzt bei den Wahlen zwei Faktoren – der föderale und der regionale – wirken würden. Der föderale bestehe darin, dass nach den Ereignissen in Weißrussland der Kreml große Besorgnis sowohl hinsichtlich der Proteste als auch hinsichtlich der Opposition demonstriere. Verstärkt hätten sich die Sicherheitsvorkehrungen. Nach Aussagen Makarkins verfolge der Kreml, dass sich dem Volksprotest in keinem Falle die Opposition anschließe, wie dies in Polen in den 80er Jahren bei der „Solidarność“ gewesen war. Daher würden die föderalen Offiziellen in den Regionen auch unterschiedliche Varianten ausprobieren – von einem Kupieren der Proteste in Baschkirien bis zur Bildung eines „Volksrates beim Gouverneur“ in Chabarowsk. Der regionale Faktor aber offenbare sich darin, dass die einheimische Elite nicht daran interessiert sei, dass die Opposition in die Machtorgane gelange. „Natürlich, der Kreml betrachtet die Wahlen des Jahres 2020 als eine Kraftprobe vor dem Jahr 2021. Er guckt, wer zu was fähig ist, was für Kräfte er mobilisieren kann, wieviel Kandidaten aufzustellen sind und wie die Kampagne zu führen ist. Die Besorgnis des Kremls hinsichtlich der Duma-Kampagne begann, sich bereits im vergangenen Jahr – nach den Wahlen zur Moskauer Stadtduma – zu offenbaren. Denn, während früher die kommunale Ebene die Herrschenden nicht beunruhigte, so bekundet man jetzt selbst ihm verstärkte Aufmerksamkeit. Das Abgeordnetenmandat – selbst das kommunale – dies ist wenn auch kein allzu hoher, aber ein gesellschaftlicher Status, ein Zeichen der Unterstützung für einen Oppositionellen durch die Wähler. Man kann es sowohl für eine Hilfe für Kollegen als auch für die Arbeit mit den Menschen nutzen. Dies bedeutet aber nicht, dass von oben unbedingt irgendwelche Signale an die Regionen gesandt worden sind. Schließlich wissen die föderalen Offiziellen, dass die regionalen Regierenden bereits hinsichtlich eines Standardsatzes von Maßnahmen zum Kampf gegen die Opposition geschult worden sind, was die lokalen Offiziellen derzeit auch tun. Und da Wahlkampagnen in den Regionen gleichzeitig laufen, erfolgen der Widerstand und die Behinderung der Oppositionellen parallel“, resümierte der Expert.