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Bekommen Russlands orthodoxe Aktivisten Oberwasser?


Nachdem Irina Wolynez, Mitglied der Gesellschaftlichen Kammer der Russischen Föderation, vorschlug, die Feiern des Tages Russlands vom 12. Juni auf den 1. Juli, der Haupttag der jüngsten Abstimmung zu den Änderungen der russischen Verfassung, zu verlegen, hat sich die christlich-orthodoxe Gemeinschaft der Diskussion angeschlossen. Die gesellschaftliche Bewegung „Sorok sorokow“ („Vierzig Soroks“, Sorok — eine Verwaltungseinheit der russischen Kirche in Moskau ab dem 16. bis Anfang des 20. Jahrhunderts – Anmerkung der Redaktion) zog auf ihrem Telegram-Kanal Bilanz einer Umfrage, in deren Verlauf den Abonnenten vorgeschlagen worden war, unter zwei Daten – dem 12. Juni oder dem 28. Juli – auszuwählen.

Das zweite Datum ist kein zufälliges, dies ist der Tag der Christianisierung der Rus. „Gerade am 28. Juli 988 begann die russische Staatlichkeit, die zum 1000jährigen Russland gediehen ist. Unserer Meinung nach, die wir keinem aufzwingen, sind wir der Auffassung, dass, wenn wir schon gemäß der Verfassung nicht zu einem „neuen“ Russland geworden sind, wie Jelzin deklariert hatte, sondern zu einem 1000jährigen, wie Putin sagt und was der Wirklichkeit entspricht, man auch ganz vom Anfang an beginnen muss, von jenem Datum, als  unser tausendjähriges Reich Russland auch aus der Taufe gehoben wurde“, erläuterten die Initiatoren des Internet-Referendums. Sie sind sich gewiss, dass jene Verfassungsänderung über Gott, die dank der gesamtrussischen Abstimmung in das Grundgesetz der Russischen Föderation aufgenommen wurde, jetzt offiziell erlaube, das Feiern des Tages Russlands mit dem Tag der Christianisierung der Rus zu vereinen. 

Die Autoren des Kanals erklären, dass für den 28. Juli als einen staatlichen Feiertag 92 Prozent der Abonnenten gestimmt hätten. Freilich von den fast 20.000 Abonnenten des Telegram-Kanals von „Vierzig Soroks“ haben an der Umfrage etwas mehr als eintausend teilgenommen. Doch eine so geringe Beteiligung hat die Organisatoren der Bewegung nicht betrübt. „Wir sind wirklich der Auffassung, dass die Russen und alle Völker, die sich mit den Russen vereint haben, gerade dem Tag der Christianisierung der Rus sowohl die Staatlichkeit, als auch die Sprache und Kultur sowie die ruhmreiche Geschichte von Siegen zu verdanken haben. Und das Wichtigste, jenen russischen Geist, ohne den es weder Russland noch das Volk, das in ihm lebt, gegeben hätte. Irgendwelche Menschen hätte es natürlich gegeben. Doch das Volk und den Staat Russland hätte es nicht gegeben. Also erfreuen uns die Umfrageergebnisse. Ergo ist noch nicht alles verloren“, schrieben die Aktivisten bei der Bilanzierung.

Der Vorsitzenden der Synodalen Abteilung der Russisch-orthodoxen Kirche (ROK) für die Beziehungen der Kirche mit der Gesellschaft und den Massenmedien, Wladimir Legoida, verbreitete ohne irgendwelche erläuternde Kommentare die Veröffentlichung der christlich-orthodoxen Aktivisten auf seinem Telegram-Kanal weiter. Kann dies aber eine unausgesprochene Unterstützung der Initiative von „Vierzig Soroks“ seitens offizieller Vertreter der ROK bedeuten? Wobei das letzte Wort natürlich Patriarch Kirill zu sprechen hat. Ja, und es muss auch nicht mehr lange gewartet werden. Ungeachtet dessen, dass aufgrund der Covid-19-Pandemie bisher unklar ist, in welchem Format in diesem Jahr die Veranstaltungen zum Tag der Christianisierung der Rus erfolgen werden und ob die für diese Feiern traditionelle Prozession stattfinden wird, wird auf jeden Fall ein Patriarchen-Gottesdienst zelebriert werden. Und über die Rolle der Christianisierung als einen staatsbildenden Faktor spricht das Oberhaupt der ROK ohne hin nicht das erste Jahr in Folge. Andererseits hat Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten, bereits erklärt, dass im Kreml keine Erörterung der Initiative zur Verschiebung des Feierns des Tages Russlands erfolge. Doch auch Gott hatte es früher nicht in der russischen Verfassung gegeben.

Möglicherweise sind auch nicht alle bereit, das Datum des 28. Juli bedingungslos zu akzeptieren. Die historische Grundlage der Christianisierung der Rus ist keine eindeutige. Das Volk wurde zum christlichen Glauben in Kiew bekehrt, das in unseren Tagen zur Hauptstadt der unabhängigen Ukraine wurde. Die Taufe von Großfürst Wladimir Swjatoslawowitsch an sich erfolgte in Chersones auf der Halbinsel Krim, die 2014 durch Russland zurückerlangt wurde. Übrigens, bald nach der Taufe des Fürsten verloren die Russen Chersones. Und kann man die Taufe des politischen Oberhaupts der Kiewer Rus als Beginn der Staatlichkeit ansehen? Als Ausgangspunkt kann man gleichfalls die Annahme des christlichen Glaubens durch Wladimirs Großmutter, durch Fürstin Olga, entweder 955 oder 957 in Konstantinopel nehmen.

Außerdem fördert der religiöse Charakter des Ereignisses, das dem kirchlichen Tag des Gedenkens an den Heiligen Fürsten Wladimir I. gewidmet ist, nicht die Konsolidierung des multikonfessionellen Landes. Es sei auch daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit unter Beteiligung des Rates der Muftis von Russland ein Organisationskomitee zum Feiern des 1100. Jahrestages der Annahme des Islams durch die Wolgabulgaren 922 gebildet wurde. Die überaus reiche Geschichte unseres Land gibt den Völkern viele Anlässe für Streits über die „Erstgeburt“ bzw. den „Erstgeborenen“. Aller Anfang ist schwer.