Konstantin Bogomolow, das Enfant Terrible des heutigen russischen Theaters, hat in Perm seine Sicht auf die Oper „Carmen“ von Georges Bizet vorgestellt, wobei er das romantische Sujet einer gnadenlosen Verspottung aussetzte und veranlasst, sich über ernsthafte Sachen Gedanken zu machen. Dies ist die zweite Operninszenierung des bekannten Regisseurs. Der erste Präzedenzfall ereignete sich vor beinahe drei Jahren, im Moskauer Stanislawskij- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater, in dem die spektakuläre Premiere von Händels „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ erfolgte (die Musik des Barock-Oratoriums war mit einem Libretto des Schriftstellers Wladimir Sorokin verbunden worden).
Es muss sofort klargestellt werden, dass es eine vollkommen undankbare Sache ist, die „Carmen“ Bogomolows aus der Sicht des Entsprechens (oder Nichtentsprechens) der Absicht des Komponisten zu beurteilen. Der Regisseur spielt schon längst entsprechend den eigenen Regeln, folgte eigenen Gesetzen. Daher weist die in Perm erhaltene Handlung eine recht entfernte Beziehung zu Bizet und eine noch weiter entferntere zu Mérimée auf. Die Oper „Carmen“ wurde zu einem Anlass für die Gestaltung einer scharfsinnigen workshopartigen Revue, in der der gnadenlose Dämon des Zynismus, der Spöttelei und Ironie das Zepter schwingt. Anstelle eines romantischen Pathos – ein Lachen über Sachen, über die es überhaupt nicht üblich ist zu lachen. Anstelle des dramatischen Sujets – ein raffiniertes intellektuelles Spiel, in dem buchstäblich auf Schritt und Tritt für das Bewusstsein Fallstricke gezogen worden sind.
Die als Kino stilisierte Handlung der Aufführung ist in ein angenommenes vor- und nachrevolutionäres Odessa verlegt worden. Die Geschichte der Verwandlung des „russischen Offiziers“ José in einen Triebtäter-Psychopathen, der das „jüdische Mädchen“ Carmen heiratete, eine Arbeiterin der Gozman-Tabakfabrik, an deren Tor die berüchtigten Worte „Arbeit macht frei“ geschrieben stehen, entwickelt sich in der Inszenierung von Konstantin Bogomolow gleich auf mehreren zeitlichen und soziokulturellen Ebenen. Die schablonenhafte Formulierung im Programmheft „Die Oper wird in französischer und russischer Sprache mit russischen Untertiteln aufgeführt.“ hatte sich als ganz und gar nicht das erwiesen, was sich der Zuschauer üblicherweise vorstellt. Anstelle einer Übersetzung der bekannten Arien und Ensembleszenen wurde über der Bühne ein Text angezeigt, der an die Untertitelung eines Stummfilms erinnerte und ironisch das Sujet kommentierte (bei der „Habanera“ – „So singt die junge Jüdin Carmen.“; während des Liebesduetts von José und Micaëla, die überhaupt keine Braut, sondern die Schwester des Haupthelden ist – „José und Micaëla erinnern sich der Mutter und des Lebens im Dorf Nebesejewo bei Archangelsk.“; in der Ensembleszene von Mercédès und Frasquita mit den Schmugglern – „Zionisten-Verführer erzählen, dass in Palästina die Berge in solch einer großen Breite in Brand sind, ja und da gibt es noch einen grünen Papagei“; in der Szene mit dem Versuch von José, Carmen zu verlassen und in die Kaserne zu gehen – „José singt darüber, dass er mit den Kerlen feiern möchte.“ usw.). Die gleiche Untertitelung teilt zu Beginn des zweiten Aktes mit, dass „Carmen eine Bewegung für Frauenrechte anführte. Sie bittet, sie Carwoman zu nennen“.
Das Liebes-Dreieck José-Carmen-Escamillo ist in einer sozialen und alltäglichen Haushaltsform gestaltet worden. Der lyrische Hauptheld ist ein verklemmtes, dabei sehr gottesfürchtiges pummliges „Muttersöhnchen“, das letztlich seine Komplexe herauslässt, indem er sich in einen grausamen Triebtäter-Psychopathen verwandelt. Die Szene der Verführung von José durch Carmen erfolgt in einer Stille. Die Helden sind anfangs an die Ränder der Bühne gestellt worden („José bleibt das erste Mal allein mit einer Frau“ wird in der Untertitelung präzisiert). Danach kommt Carmen zu dem verzweifelt das „Vaterunser“ flüsternden Helden und setzt sich auf ihn, wobei sie ihn mit ihrem weiten Rock zudeckt. Den in den Händen von José verbliebenen hygienischen Tampon anstelle einer Blume kann man bei all dem ganzen abstoßenden physiologischen Charakter auch als ein Symbol für den Verlust der Unschuld begreifen. Und buchstäblich wenige Minuten später holt Zuniga, der zur Klärung der Beziehungen herbeigeeilt ist, unter dem weiten Rock von Carmen eine kleine Plastikpuppe hervor. Escamillo ist in der Konzeption der Aufführung ein Filmstar, der durch den Regisseur Schmuljewitsch aus Odessa für den Dreh einer Serie von „Stierkämpfer“-Filmen eingeladen wurde. Die markante Einleitung zu den berühmten Strophen erklingt überraschend und nahtlos übergehend nach dem Liedchen von Kriminellen Odessas „An der Bogatjanowskaja hat eine Bierkneipe aufgemacht“, das durch die Chefin der Operntruppe (und Absolventin des Kiewer Konservatoriums) des Permer Operntheaters Medea Yasonidi effektvoll dargeboten wurde. Das eigentliche kleine Lied des Stierkämpfers wurde in eine Sauforgie verwandelt. Und die dritte Strophe geben der Solist und der ihn unterstützende Chor bereits unverständlich, brüllend und an den Noten vorbei wieder. Bei diesem Fest ist auch Carmen präsent, die sich kühl dem angetrunkenen Macho verweigert, den „alle wollen“. In der vorletzten Szene rennt dieser gleiche Macho nur in Unterhausen aus dem Pissoir heraus, wobei er mit einem Kerlchen zusammenprallt, der überraschend zu seiner „kleinen Carmen“ zurückgekehrt ist. José, der zur „Beerdigung der geliebten Mutter“, die eine in einer nationalen Bauerntracht gekleidete Darstellerin spielt, abgereist war, erscheint im Finale in Gestalt eines lustigen Tieres in Form eines „Butterbrotes“, das für die Premiere eines neuen „Stierkämpfer“-Sequels (Fortsetzungsfilms) wirbt. Schwermütig streicht er über die Bühne, wobei er beobachtet, wie seine Ex in einem eleganten Kleid mit freiem Rücken („Ist das Kleid von Gucci?“ – „Nein, es ist von unserem Abramian aus Odessa“) Hand in Hand mit Escamillo herumläuft. Die letzte Szene, in der José auf einem Stuhl festbindet, mit einem Bügeleisen eine Verbrennung zufügt (in die Partitur dringt plötzlich die Stimme einer munteren Sprecherin mit einer Reportage über den Massenmörder Sokolow ein) und danach mit einem Sack zum Ersticken bringt. Bereits beim fallenden Vorhang ist das Geräusch einer Motorsäge zu vernehmen, mit der der Held sein Opfer zerstückelt…
Die Verbindung von Lachen und Horror ist klassisch für das Postmoderne. Bogomolow treibt diese Methode bis zum Extremen. Die Aufführung ist glänzend durchdacht und virtuos gestaltet worden. Die Beteiligten der Handlung, die umwerfende Blondine Carmen – Natalia Ljaskowa, der komische und bedauernswerte José – Boris Rudak, der stattliche und imposante Escamillo – Enchbat Tuwschinshargal, die naive und alberne Micaëla – Anshelika Minassowa, sie waren nicht nur als Sänger gut, sondern vor allem als Schauspieler. Der für den musikalischen Teil von „Carmen“ verantwortliche Philipp Tschishewskij dirigierte fahrig und drastisch, wobei er von der Partitur alle „dick aufgetragenen“ romantischen Retuschen entfernte und neue Farben hinzufügte (beispielsweise den Klang einer Gitarre, deren Improvisationen überraschenderweise vor der „Habanera“ erklingen). Gesondertes Lob verdient der Chor, dessen Meisterschaft die berühmten hauptstädtischen Theater beneiden können. Das Sichtbare und Hörbare in der Aufführung war fest verschmolzen worden. Die Musik von Bizet wurde zu einem Kommentator für das Sujet des Regisseurs, dessen Methoden bei all ihrem modern und modisch erscheinenden Charakter nun doch nicht so neu sind. Schließlich hatte bereits 1834 Puschkin über den von ihm in der Jugendzeit vergötterten Voltaire geschrieben: „Er überflutete Paris mit charmanten Schmuckstücken, in denen die Philosophie in einer allgemein akzeptierten und spielerischen Sprache sprach, einem Reim und Meter, der sich von der Prosa unterschied. Und diese Leichtigkeit schien der Höhepunkt der Poesie zu sein. Schließlich wird auch er einmal in seinem Leben zu einem Poeten werden, wenn sein ganzes zerstörerisches Genie mit aller Freiheit in einem zynischen Gedicht Gestalt angenommen hat, in dem alle hohen Gefühle, die für die Menschheit kostbar sind, dem Dämon des Lachens und der Ironie geopfert wurden. Die griechische Antike ist verspottet worden, das Heiligtum beider Gebote — verflucht …“