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Chefredakteuer von Nesawisimaya Gazeta Konstantin Remtschukow über die Bilanz des Jahres 2020: Das Prinzip „erlaubt ist alles, was nicht verboten ist“ wird durch das Prinzip „ein nicht erwischter Dieb kann nicht bestraft werden“ ersetzt


Das Schaltjahr 2020 wird einen besonderen Platz in unseren Erinnerungen einnehmen. Und nicht nur aufgrund von COVID-19. Das Hauptprinzip der politischen Ethik „erlaubt ist alles, was nicht verboten ist“ ist faktisch durch das Prinzip „ein nicht erwischter Dieb kann nicht bestraft werden“ ersetzt worden. Ein für das Leben von Iwan Denissowitsch (Hauptfigur aus dem Erstlingswerk Alexander Solschenizyns – Anmerkung der Redaktion) durchaus passendes. Doch ein todgefährliches für die Zukunft des Landes, das ein verderbliches Misstrauen aller gegenüber allem kultiviert.   

Das Tempo der Verringerung der Bevölkerungszahl des Landes hat um das 10fache zugenommen. Die Sterberate ist um 9,7 Prozent angestiegen, und der natürliche Bevölkerungsrückgang hat allein in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres 468.000 Menschen ausgemacht. Dies sind aber integrierte und die wichtigsten Parameter für die Lebensqualität und Effektivität der Herrschenden. Man kann beliebig viel die Äußerungen von Alexander Solschenizyn über das Bewahren der Bevölkerung zitieren, doch es gelingt den heutigen Regierenden auf katastrophale Weise nicht, das russische Volk zu bewahren.  

Die Abstimmung für die Verfassungsänderungen wurde zu einem Vertrauensplebiszit in Bezug auf Wladimir Putin mit der theoretischen Möglichkeit, dieses Vertrauen bis sage und schreibe 2036 zu rechtfertigen. 

Die Verknüpfung der wiederaufkommenden politischen Gewalt mit der offenkundigen wirtschaftlichen Stagnation und Zunahme akuter Armut, dem rasanten Aufblähen des Strafgesetzbuches durch repressive Artikel, die die Selbstartikulation im Internet und den Hang zu verschiedenartigen Formen von Straßen-Demokratie bestrafen, lassen keine Zweifel an der typologischen Ähnlichkeit der Ereignissen der heutigen Zeiten und derjenigen, die dem Niedergang eines Imperiums vorausgehen. Die Ersetzung des normalen politischen und zivilen Dialogs in der Gesellschaft durch einschüchternde Normen des Straf- und Verwaltungsrechtes ist ein Prozess, der von der Gewährleistung einer langfristigen Stabilität wegführt. Besonders in einer Gesellschaft mit einer zunehmenden Kompliziertheit der Interessen und Lebensbilder.   

Die Einschränkung des Raumes für das politisch-ökonomische Interesse als ein Objekt des staatlichen Schutzes bis zum Bedarf an einem Status quo für ein Dutzend mächtiger Clans, die keine Merkmale einer nationalen ideologischen Identität aufweisen, ist ein gewisser Widerspruch. Ein beinahe unlösbarer auf dem Weg seiner nichtantagonistischen Aufhebung. Die Clans fallen lassen, indem er ihre Anführer ans Messer liefert, kann der Präsident nicht. Die Rezepte von Iwan dem Schrecklichen und Iosif Stalin sind für Wladimir Putin inakzeptabel. Das Bedürfnis, ohne Freunde und Kameraden ganz oben an der Spitze zu sein, gibt es für ihn offensichtlich nicht. Gerade deshalb wird die Ressource für die Schaffung einer breiten Basis derjenigen, die etwas zu verlieren haben, schnell ausgeschöpft. Im Volk, besonders unter dessen jungen Teil, findet vor dem Hintergrund des im Verlauf von sieben Jahren anhaltenden Rückgangs der Realeinkommen immer mehr die Überzeugung/der Irrglauben Verbreitung, dass es schon nicht schlimmer werde.  

Das Setzen auf die polittechnologische Schlaghammer-Kraft für eine Förderung der eigenen Schützlinge wie im Fall mit dem Petersburger Gouverneur Alexander Beglow erweist sich als ein zu aufwendiges und offenkundige Mängel besitzendes.  

Außenpolitische Siege hat das Jahr nicht gebracht, selbst unter Berücksichtigung des friedensstiftenden Eingreifens in den Bergkarabach-Konflikt. Die Vergiftung von Alexej Nawalny veranlasste den kollektiven Westen aufgrund des Verdachts des Einsatzes eines verbotenen chemischen Giftstoffes, die Dämonisierung von Putins Russland fortzusetzen. 

Übrigens, die Anwendung von Methoden der digitalen Kriminalistik bei der Untersuchung der Vergiftung machte Eindruck. Jetzt sind unsere Jura-Fakultäten einfach verpflichtet, Lehrstühle für digitale Kriminalistik einzurichten. Schließlich bleibt eine digitale Spur von einem immer breiter werdenden Spektrum des menschlichen Wirkens zurück. 

Mit dem (mehr als unschönen) Abgang von Donald Trump, der sich nie persönliche Ausfälle gegen Wladimir Putin erlaubt hatte, kann man im neuen Jahr eine stärker koordinierte antirussische Politik der USA und der EU erwarten. 

Die Regierung von Michail Mischustin hat im zu Ende gegangenen Jahr Durchhaltevermögen angesichts der Schläge von COVID-19 gegen die Einnahmen aller Art demonstriert. Putin hatte das Ministerkabinett Mitte Januar aus irgendeinem Grund umgekrempelt. Das ist gut gegangen. Für uns alle. 

Die Erschütterung des Regimes von Alexander Lukaschenko und der Machtantritt von Maia Sandu in Moldawien waren ein klarer Verweis auf die an Kraft gewinnenden Trends in der politischen Ausrichtung der Gesellschaften im postsowjetischen Raum westlich von Moskau. Die Anstrengungen zur Konfliktregelung im Donbass sind schwächer geworden. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer bildet sich eine gewisse Achse von Ländern, die Russland für ein Land mit ungeeigneten politischen Instituten halten. 

Es dauerten die Anti-Doping-Qualen für die einheimischen Sportler an, denen man verboten hat, (noch) zwei Jahre lang unter russischer Flagge an den Start zu gehen. Der eine oder andere der Funktionäre wertete dies als einen Sieg für die Russische Föderation. Man hätte ja auch überhaupt nicht zu Wettkämpfen zulassen können. Schließlich hat man den russischen Spitzenvertretern untersagt, zwei Jahre lang keine Olympischen Spiele und Weltmeisterschaften zu besuchen…

Gern möchte man da alle Widrigkeiten im vergangenen Schaltjahr lassen. 

Ich wünsche Ihnen, liebe Leser, Gesundheit und Ausdauer, Hoffnung und Erfolg.