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Cherson will man aus humanitären und strategischen Erwägungen aufgeben


Die russischen Einheiten werden aus dem südukrainischen Cherson auf dem rechten Dnepr-Ufer abgezogen und werden Verteidigungsstellungen auf dem linken Ufer des Dneprs einnehmen. Die Entscheidung darüber wurde nach einem Report des Befehlshabers der Vereinigten Gruppierung der russischen Truppen im Bereich der militärischen Sonderoperation, Armeegeneral Sergej Surowikin, an den Verteidigungsminister der Russischen Föderation, Sergej Schoigu, bestätigt. „Ich verstehe, dass dies eine sehr schwere Entscheidung ist. Wir bewahren aber das Leben der Militärs. Eine Truppengruppierung auf dem rechten Ufer zu belassen, ist perspektivlos“, erklärte Surowikin am 9. November. Bis dahin waren den ganzen Tag aus dem Verwaltungsgebiet Cherson besorgniserregende Nachrichten gekommen. Ukrainische und russische Medien berichteten über die Sprengung einer ganzen Reihe von Brücken. Und von Verwaltungsgebäuden entfernte man weiterhin die russischen Flaggen. Und der stellvertretende Verwaltungschef des Gebietes Cherson, Kirill Stremousow, der gegen eine Aufgabe der Stadt gewesen war, ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Bereits am 3. November, zu einer Zeit, als die Behörden der Russischen Föderation weiterhin Einwohner von Cherson vom rechten Dnepr-Ufer evakuierten, tauchten Meldungen auf, dass vom Gebäude der Verwaltung des Gebietes Cherson die russische Flagge verschwunden sei. Und die Administration des Verwaltungsgebietes sei in die Stadt Genitschesk verlegt worden. Die russischen Militärkorrespondenten Semjon Pegow und Alexander Koz berichteten am 9. November gleichfalls, dass weiterhin von Verwaltungsgebäuden Chersons die russischen Flaggen verschwinden würden. Im Messenger-Dienst Telegram und später in Medien tauchten Nachrichten über eine Sprengung von Brücken in der Region auf, die die ukrainischen Militärs im Verlauf von Angriffshandlungen nutzen könnten. Gemeldet wurde unter anderem, dass die Brücken von Tjaginskaja, Darjewka und Nowowassiljewsk gesprengt wurden.

In einem Bericht des russischen Verteidigungsministeriums bezüglich der Ereignisse an den Fronten wurde berichtet, dass ukrainische Militärs russische Positionen im Verwaltungsgebiet Cherson angegriffen hätten, aber zurückgewichen seien, wobei sie erhebliche Verluste erlitten hätten. „Durch die aktiven Handlungen der russischen Truppen sind mit Unterstützung der Artillerie alle Attacken des Gegners abgewehrt worden“, informierte das russische Verteidigungsministerium vollmundig. Der stellvertretende Verwaltungschef der Region, Kirill Stremousow, hatte am Mittag gleichfalls erklärt, dass „am Frontabschnitt Snigirjewka ab den Morgenstunden schwere Gefechte begannen“. Nach 16.00 Uhr Ortszeit begannen aber Meldungen zu kursieren, wonach Stremousow bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Diese Information bestätigte nur wenig später das amtierende Oberhaupt des Verwaltungsgebietes Cherson, Wladimir Saldo.

All diese Nachrichten prägten um Cherson einen so besorgniserregenden informationsseitigen Hintergrund, dass sogar aktive Verfechter der militärischen Sonderoperation begannen, von dessen baldigen Aufgabe zu sprechen. Es sei daran erinnert, dass Sergej Surowikin Ende Oktober erklärt hatte, dass die Pläne und Handlungen in Bezug auf Cherson von der sich ergebenden militär-taktischen Situation abhängen würden: „Wir werden bewusst und rechtzeitig agieren, wobei wir auch das Treffen schwerer Entscheidungen nicht ausschließen“. Schon damals hatten dies viele als eine Ankündigung der Aufgabe von Cherson und eines Rückzugs auf das andere Dnepr-Ufer aufgefasst.

Bei der Mittwoch-Beratung berichtete Sergej Surowikin Verteidigungsminister Sergej Schoigu über die sich im Bereich der Sonderoperation vollziehenden Ereignisse, wobei er betonte, dass es gelungen sei, die Situation zu stabilisieren. Und die russische Armee würde erfolgreich der Cherson-Offensive der ukrainischen Streitkräfte Widerstand leisten. Danach teilte jedoch Surowikin mit, dass aufgrund des Beschusses seitens der ukrainischen Militärs Cherson und die umliegenden Ortschaften nicht vollwertig versorgt werden und funktionieren könnten. Und alle Interessenten (über 115.000 Menschen) hätten das Gebiet der Kampfhandlungen verlassen. „Das Leben der Menschen wird aufgrund des Beschusses ständig einer Gefahr ausgesetzt. Der Gegner führt einen wahllosen Beschuss der Stadt durch, möglich ist die Anwendung verbotener Methoden bei der Führung der Kampfhandlungen“, meinte der hochrangige Militär, wobei er resümierte, dass es richtiger sei, auf dem linken Ufer des Dneprs Verteidigungsstellungen einzunehmen. „Ich verstehe, dass dies eine sehr schwere Entscheidung ist. Zur gleichen Zeit bewahren wir aber das Leben unserer Militärs und die Kampfkraft der Truppen. Sie auf dem rechten Ufer zu belassen, ist perspektivlos“, sagte der 56jährige Surowikin, nach dessen Aussagen das entsprechende Manöver in den nächsten Tagen vorgenommen werde. „Beginnen Sie mit dem Abzug der Truppen und ergreifen Sie alle Maßnahmen, um eine sichere Verlegung des Personalbestands, der Waffen und Technik zu gewährleisten“, erwiderte Schoigu.

Derweil erklärte die offizielle Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, bei ihrem Briefing am 9. November, dass die Russische Föderation nach wie vor für Verhandlungen mit der Ukraine offen sei. „Wir haben sie nie abgelehnt. Wir sind bereit, sie zu führen. Es versteht sich, unter Berücksichtigung jener Realitäten, die sich zum gegenwärtigen Moment ergeben“.

Post Skriptum der Redaktion „NG Deutschland“

Die Entscheidung über eine Aufgabe von Cherson durch die russischen Truppen wurde zu einer neuen Herausforderung für die staatlichen Medien. Dieser unpopuläre, aber schwere Schritt musste und muss ja irgendwie der russischen Bevölkerung vermittelt werden, ohne an der Reputation von Verteidigungsminister Schoigu oder Kremlchef Putin zu kratzen. Wladimir Solowjow, der durch seine oft hetzerischen und beleidigenden Äußerungen im russischen Staatsfernsehen auffällt, erklärte in der Nacht zum Donnerstag im Rahmen seiner politischen Talk-Show: „Dies ist eine sehr schwere Entscheidung. Und um solch eine Entscheidung zu treffen, muss man ein sehr mutiger Mensch sein“. Damit gab er einen Trend vor, den andere Politologen und Kommentatoren aufgriffen. Surowikin wird zu einem Mann hochstilisiert, auf den die letzten Siegeshoffnungen ruhen. Überdies betonte Solowjow, dass ja Russland einen Krieg gegen die NATO führe. „Uns stehen 50 % der Weltwirtschaft gegenüber“, jammerte er. Der ehemalige Chefredakteur der „NG“, Vitalij Tretjakow meinte, dass die militärische Entscheidung zu Cherson durchaus eine gute sei, aber die politischen Konsequenzen könnten nicht so positiv ausfallen. Dabei erhielt er Rückendeckung von dem als kremltreu bekannten Politologen Sergej Markow: „Die Aufgabe von Cherson ist die größte geopolitische Niederlage Russlands seit dem Zerfall der UdSSR. Die politischen Konsequenzen dieser gewaltigen Niederlage werden real große sein. Der Hauptgrund für diese Niederlage sind der Verzicht auf einen realen Krieg und das katastrophale Zuspätkommen bei dem Treffen der erforderlichen Entscheidungen“. Auch Militärkorrespondenten, die in der Region des Konfliktes arbeiten, kommentierten die aktuelle Entwicklung um Cherson. Sergej Pegow (bekannt als WarGonzo mit einem entsprechenden Telegram-Kanal) schrieb: „Die Cherson-Entscheidung bedeutet keine Flucht. Der strategische Rückzug ist eine sehr schwierige Operation, und es ist zu erwarten, dass die ukrainischen Streitkräfte versuchen werden, dieses Manöver zu erschweren“