Das Djagilew-Festival ist mit einer Inszenierung des Mysteriums „De temporum fine comoedia – Das Spiel vom Ende der Zeiten“ von Carl Orff zu Ende gegangen. In der Version von Teodor Currentzis wird das Weltende durch Gottes Segen erleuchtet.
Wie jeder beliebige begabte Künstler spürt Currentzis buchstäblich die Vibrationen der Zukunft in der Luft. Das Mysterium von Orff, das dem heutigen Tag mehr denn je entspricht, war lange vor dem 24. Februar ausgewählt worden. Dieses Werk werden das Orchester und der Chor vom Ensemble MusicAeterna in Salzburg aufführen, in einer Vorstellung zusammen mit der Oper „Herzog Blaubarts Burg“ von Béla Bartók (ab 26. Juli bis einschließlich 20. August, insgesamt sechs Vorstellungen im Rahmen der Salzburger Festspiele – Anmerkung der Redaktion). Hier erfolgte im Übrigen auch vor fast 40 Jahren – sagen wir es einmal so — die Vorpremierenaufführung des Mysteriums (der sozusagen ersten Fassung, da der Komponist das Werk bis zu seinem Tode überarbeitete) auf Initiative und unter Stabführung von Herbert von Karajan. Nun ist Currentzis die Ehre zuteilgeworden, die Musik von Carl Orff zu interpretieren. Die Aufführung an sich inszeniert Romeo Castellucci.
Interessant ist, dass sich Currentzis nicht das erste Mal dem „Spiel vom Ende der Zeiten“ zuwendet. Im Jahr 2007 wurde es in Moskau aufgeführt. Und die Inszenierung von Kirill Serebrennikow klang eher wie eine politische Aussage. Die Inszenierung der Medienkünstlerin Anna Gusjewa ist dem erklärten Genre eines Mysteriums näher. Sich in der Verflechtung von Menschen, Gesten und Symbolen in dieser Inszenierung zurechtzufinden, ist nicht einfach, wenn nicht gar unmöglich. Aber der finale Moment, zu dem Luzifer in Gestalt eines kleinen Mädchens auf die Bühne kommt, Gott um Vergebung bittet und sie erhält, ist verständlich: In den Lichtstrahlen gehen Jesus und Luzifer in die Ewigkeit ein. Und der Bach-Choral „Vor deinen Thron tret’ ich“ (BWV 668, entstanden 1750 – Anmerkung der Redaktion), der von Orff alten Violen übertragen worden war, löste sich im Klang eines reinigenden und buchstäblich zum Zeitpunkt der Erschaffung der Welt zurückbringenden Wassertropfen auf.
Currentzis wäre nicht Currentzis, wenn er nicht eine eigene Botschaft in der Musik verschlüsselt hätte. In das „Requiem“ von Mozart hatte er beispielsweise eine kleine Motette von Sergej Zagnij über einen schwarzen Mann, die dieser im Rahmen eines langjährigen Projekts zur „Ergänzung“ von Mozart-Themen durch unterschiedliche Komponisten geschrieben hatte (im Grunde genommen war nur ein kurzer Autorentext verfasst worden, und das „Requiem“ war in der weit bekannten Gestalt durch einen der Schüler abgeschlossen worden), aber auch eine Melodie eingebaut, die als letzte durch den sterbenden Tonschöpfer festgehalten worden war. Den ersten Teil des „Spiels vom Ende der Zeiten“ („Die Sibyllen“) schließt Currentzis mit dem Fragment einer eigenen Komposition ab. Dies ist ein von Trauer erfülltes Wiegenlied für eine Frauenstimme, in dem von einer Mutter die Rede ist, die den Sohn verloren hat (soweit es möglich war, den Text zu vernehmen, denn es gab keine Untertitelung). Wie dies doch mit den heutigen Nachrichten korrespondiert…
Die Aufmerksamkeit fesselte die unglaubliche Arbeit des Lichtdesigners Iwan Winogradow, der die Bühne auf phantastische Weise verwandelt hatte, indem er sie in Finsternis versinken ließ oder einzelne Gegenstände oder Personen in den Vordergrund rückte. Gänsehaut bekam man da durch den durch die Finsternis „treibenden“ Jesus oder aufgrund der in einem halb an Blut erinnernden Meer wie nach Art eines Schamanen wahrsagenden Menschen (lebendiger oder aus dem Grab auferstandener?).
Die Üppigkeit des Geschehens aus der Bühne veranlasste mitunter, sich auf das Orchester umzuschalten. Und hier spielte sich ein eigenständiges und nicht weniger fesselndes Spektakel ab. Mit einer eigenen ausdrucksstarken Szenografie. Praktisch die gesamte Fläche war den Schlagwerken überlassen worden – angefangen bei den großen Trommeln und Kesselpauken bis hin zu kleinen Schlaginstrumenten, die in den Händen der Musiker Platz fanden, einer Orgel und Pianos mit abgenommenen Deckeln, die buchstäblich an aufgerissene Rachen erinnerten. Am rechten Rand befanden sich die glänzenden Blasinstrumente, neben Teodor – die Violengruppe. Die Gesten der Darsteller, die in den Weiten einer der Werkhallen (Liter A) des ehemaligen Schpagin-Betriebes das Jüngste Gericht zeichneten, waren theatralisch expressiv.
Und der Klang, der wie stets bei Currentzis entsprechend einer unwahrscheinlich großen Amplitude gestaltet wurde, vom leisesten Piano bis zum ohrenbetäubenden Fortissimo, war ein idealer – ein faszinierender, trauriger, beängstigender und besänftigender. Das Weinen der Sibyllen, das Skandieren der Anachoreten, der die Seele aufwühlende Klang einer Holzklapper, der durch seine Ruhe und Unschuld schrille Aufschrei von Luzifer, der himmlische Klang der Violen … Currentzis ist hier ein idealer Begleiter des Komponisten (und sogar von zweien unter Berücksichtigung dessen, dass es da auch ein Choral-Thema – das letzte Statement Bachs – gibt), der bereits Überirdisches vorausgeahnt hat.