Laut Informationen der „NG“ wurde der Semskij-Kongress, der durch die Nowgoroder Behörden aufgrund einer angeblichen Verletzung der sanitär-hygienischen Normen verboten worden war, am 23. Mai als Live-Veranstaltung im Internet fortgesetzt. Experten betonten, dass das Auseinanderjagen des Kongresses ein Signal der Offiziellen für die Gesellschaft sei. Im Kontext der Staatsduma-Wahlen werde auf die Unzulässigkeit einer außerparlamentarischen oppositionellen Tätigkeit und deren Unterstützung durch das Elektorat hingewiesen. Aber Worte würden nicht allzu sehr auf die Wähler wirken. Die nächste Prognose lautet: Zunahme des Trends zu einer gewaltsamen Unterdrückung der Nichteinverstandenen mit einer minimalen gesetzgeberischen Ausgestaltung der operativen Tätigkeit.
Die Gerichtsverhandlungen gegen einige festgenommene Teilnehmer des Semskij-Kongresses, unter ihnen seine Organisatorin Julia Galjamina, sind auf den 24. Mai verschoben worden. Wegen Ungehorsams gegenüber der Polizei drohen ihnen Haftstrafen.
Ein Teil der Delegierten des Kongresses war dennoch am Sonntag zur Unterstützung der Kollegen auf die Straßen gegangen. Vorgesehen ist, dass zusammen mit Galjamina gegen den kommunalen Abgeordneten aus Petersburg Vitalij Bowar, den Delegierten aus Nojabrsk Alexander Bondartschuk und gegen den Vorsitzenden der Nowgoroder „Jabloko“-Abteilung Viktor Schaljakin verhandelt wird.
Nachdem die Vertagung der Gerichtsverhandlungen bekannt geworden war, setzten die Delegierten des Semskij-Kongresses am 23. Mai die Arbeit im Online-Format fort, wobei sie von verschiedenen Orten aus auftraten. Derweil bleibt vorerst ein großer Teil der Delegierten in Nowgorod. Es sei daran erinnert, dass am Vorabend die Polizei in das Hotel, in dem der Kongress erfolgte, gekommen war. Ungeachtet der Aufteilung der 50 Teilnehmer auf zwei Säle, unterbanden die Polizeikräfte diese Veranstaltung. Es würden ja Einschränkungen für ein Zusammenkommen von mehr als 30 Personen an einem Ort gelten, und die Zusammengekommen hätten gegen sie verstoßen. Obgleich es für die Vertreter der Rechtsschutzorgane schwer war, mit der Arithmetik und umso mit einem unmittelbaren Abzählen der Personen zu streiten, haben sie es getan. Und die Einwände hielten sie für einen Widerstand gegen die Polizei. Und die lokale Filiale der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor beeilte sich noch am 23. Mai zu bestätigen, dass „Verstöße gegen die sanitär-hygienische Gesetzgebung“ festgestellt worden seien. Der Großteil der Delegierten des Semskij-Kongresses ist jedoch nicht festgenommen worden. Und das Organisationskomitee des Forums gab eine Erklärung über „die illegitimen politischen Festnahmen von Kollegen und über die Versuche der Vertreter der Rechtsschutzorgane, den Kongress zum Scheitern zu bringen“ ab.
Einer der Organisatoren des Semskij-Kongresses, der Abgeordnete der Stadtduma (Stadtparlament) Kostromas Nikolaj Sorokin, teilte der „NG“ mit, dass der Kongress in der Tat in Nowgorod online fortgesetzt werde. Er vermutete, dass auch die Versuche, die Treffen offline durchzuführen, und das Anbahnen horizontaler Kontakte zwischen den Abgeordneten weitergehen würden. Sorokin ist sich sicher, dass, selbst wenn es auch keine direkte Sanktion des Kremls zur Auflösung des Kongresses gegeben hat, so ist sich auf jeden Fall der Nowgoroder Gouverneur dessen gewiss, dass man ihn dafür nicht auf föderaler Ebene bestrafen wird. Sorokin betonte gegenüber der „NG“ die ausschließlich „friedliche Aktivität“ der Delegierten, konstatierte aber, dass „augenscheinlich jegliche Aktivität den Herrschenden jetzt nicht gefällt, ob man sie nun als Semskij-Kongress oder als ein Zusammenkommen von Spitzenkräften der Abgeordnetenarbeit bezeichnet. Die Hauptschuld ist die, dass man die Initiative nicht auf dem Staraja Plostschad (Alter Platz, Viertel im Zentrum der russischen Hauptstadt, wo sich der Großteil der Präsidialadministration befindet – Anmerkung der Redaktion) abgestimmt hat“. Sorokin schloss allerdings nicht aus, dass das Auseinanderjagen eine Art Signal seitens der föderalen Offiziellen gewesen sei: „Wir sehen, dass es im Land immer mehr Hindernisse für jegliche legale gesellschaftliche Aktivität gibt, die nicht im Interesse der Partei „Einiges Russland“ erfolgt, deren Rating fällt. Die Bevölkerung steht ihr zunehmend negativer gegenüber. Das heißt: Dies ist eine Vorwahlkampfgeschichte. Jegliche gesellschaftliche Aktivität wird als eine Gefahr wahrgenommen, die man unterdrücken wird“.
Experten bestätigten der „NG“, dass der Kreml durch das Auflösen des Semskij-Kongresses sowohl der außerparlamentarischen Opposition als auch der ganzen Gesellschaft ein klares Signal gebe. Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow merkte an: „Da man den Kongress selbst ungeachtet der Vorsichtsmaßnahmen auseinandergetrieben hat, und die Restriktionen hatte man am Vorabend der Veranstaltung verhängt, ist klar, dass die Vertreter der Rechtsschutzorgane nicht die Anti-COVID-Restriktionen verteidigten, sondern mit der Absicht gekommen waren, den Kongress nicht zuzulassen. Die Message der Offiziellen für die Gesellschaft ist eine simple: nicht mehr als zwei können zusammenkommen, mit einer oppositionellen und politischen Tätigkeit sollte man sich überhaupt nicht befassen, jegliche nichtsanktionierte Aktivität wird unterbunden“. Der Experte betonte, dass allem nach zu urteilen die Botschaft der Herrschenden solch eine sei: Da sich das Land unter den Bedingungen einer belagerten Festung befindet, ist jegliches Nichtsystemkonformes eine Bedrohung und ein Schaden für die Stabilität. „Anders gesagt: Dies ist eine Gefahr für den Kreml. Daher gibt man der Gesellschaft und der Opposition zu verstehen: Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns“, unterstrich er. Dies werde sich natürlich auch auf die Wahlen auswirken, bei denen der radikale Teil des Protestelektorats – sowohl des liberalen als auch des linken — einer Vertretung beraubt sein werde.
„Dies versetzt freilich der Propaganda über den Konkurrenzcharakter und die Legitimität der Wahlen einen Schlag. Für die Herrschenden aber ist das Wichtigste, die Grundlagen des politischen Systems zu bewahren“, unterstrich Kalatschjow. Seine Prognose ist solch eine, dass, da alles entsprechend der Logik einer Verschärfung erfolge, es selbst nach den Wahlen keine Lockerung geben werde.
Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, erläuterte der „NG“: „Das Signal ist für solch eine Zeit ein gewohntes, da ein Kalter Krieg geführt wird, kommt innerhalb des Landes jegliche oppositionelle Aktivität einer Hilfe für den Feind gleich. Wenn Veranstaltungen beispielsweise mit Nawalny zusammenhängen, so ist dies ein Verbot für eine Teilnahme an den Wahlen, und wenn sie nicht mit ihm zusammenhängen, so besteht dennoch ein Risiko für diejenigen, die teilnehmen. Selbst den linken Oppositionellen Nikolaj Platoschkin bezichtigt man jetzt, dass er ein Agent der USA sei. Dies erfasst die ältere Generation. Alles in allem besteht ein Verbot für unterschiedlichste oppositionelle Aktivitäten nichtabgestimmter Art. Der Semskij-Kongress ist unter diese Logik geraten“.
Nach Meinung des Experten liege alles natürlich an den anstehenden Wahlen. Es gebe Untersuchungen, denen zufolge der Durchschnittswähler, der die ganze Zeit für die Offiziellen stimmt, langsam anfange, für die Opposition zu stimmen – vorerst bei den Wahlen auf unterer Ebene, denn bei den Präsidentschaftswahlen. Wobei die Menschen die Versicherungen nicht überzeugen würden, dass die Nichteinverstandenen Einflussagenten des Westens seien, die die 90er Jahre zurückholen wollen. „Die Menschen haben gesehen, dass die Oppositionellen in Bezug lokale Probleme aktiv sind. Die Behauptungen, dass man nicht für sie stimmen könne, werden immer weniger überzeugend. Es besteht gleichfalls die Gleichgültigkeit der jungen Menschen bis zu einem Alter von 36 Jahren hinsichtlich der schmerzhaften Erfahrungen aus dem Zusammenbruch der UdSSR. Daher strebt man einmal mehr an, die Opposition in die Schranken zu weisen, zu schwächen und zu stigmatisieren, damit auch kein Gedanke zur Suche nach Varianten für ein Smart Voting aufkommt“, erklärte Makarkin. Er nimmt an, dass sich die Offiziellen auch nach den Wahlen wohl kaum auf eine Lockerung einlassen werden. Es werden die einen Wahlen stattfinden. Es wird aber andere geben. Ergo „darf man auf jeden Fall entsprechend der Schutz-Logik den Druck auf die Opposition nicht lockern“. Und da sich die Propaganda immer häufiger für die Menschen als nichtüberzeugend erweise, „bleiben die Gewaltressourcen und die Suche nach irgendeiner gesetzgeberischen Ausgestaltung für sie“.