Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Das eurasische Wesen der russländischen Zivilisation


Der Zusammenbruch der Sowjetunion war wirklich eine geopolitische Katastrophe. In Moskau waren damals Männer an die Macht gekommen, die die Auffassung vertreten hatten, dass ein nichtkommunistisches Russland zu einem Teil des Westens werden könne. Dies war ein konzeptueller Fehler.

Die Versuche, das Land auf eine andere Manier umzumodeln, das heißt von den jahrhundertelangen Traditionen und Strömungen abzugehen, die sich im Verlauf einer langen Zeit herausgebildet hatten, führten letzten Endes zu zahlreichen Problemen.

In der heutigen Welt beginnen zivilisatorische Besonderheiten, eine überaus wichtige Rolle zu spielen: Wenn man den Traditionen nicht folgt, so werden wir unsere Entwicklungsvariante erhalten.

Russland ist ein eurasisches Land. Ein Drittel befindet sich bei uns in Europa, und zwei Drittel sind in Asien. Und dies ist unser Wesenszug: Die Russen vermochten eine große Anzahl unterschiedlicher Ethnien und Nationalitäten um sich zu vereinen. Uns unterscheidet Vieles von Westeuropa. Nicht nur das orthodoxe Christentum, sondern auch der sich geografisch und historisch herausgebildete Charakter des Volkes. Die Westeuropäer haben aufgrund der Begrenztheit des Territoriums den Akzent auf einen intensiven Charakter der Bearbeitung der Felder gelegt. Die Russen aber sind einfach zu neuen Gebieten weitergezogen und sind immer weiter gen Osten gegangen.

Unsere Vorfahren (und hier ist es sicherlich angebracht, sich an Konfuzius zu erinnern, der erklärt hatte, dass wir es so gut wie unsere Urahnen schon nicht tun könnten, man müsse sich aber bemühen, ihnen nachzuahmen) begriffen, dass die Zukunft Russlands gerade in der Entwicklung der asiatischen Territorien bestehe. Schon Michail Lomonossow hatte gesagt, dass „Russlands Reichtum durch Sibirien zunehmen wird“.

Dmitrij Mendelejew, einer der größten klugen Köpfe Russlands, hatte mehrfach unterstrichen, dass uns beschieden sei, die Rolle eines großen Schlichters und Friedensstifters zwischen Europa und Asien zu spielen. Und Nikolaj Berdjajew, der selbst die Eurasier kritisierte, nannte unser Land „Ost-West“. Alexander Block hatte sehr genau diese Tendenz verspürt, wobei er sie mit dem entsprechenden poetischen Bild beschrieb.

Recht hatte der herausragende US-amerikanische Wissenschaftler Samuel Huntington, der behauptete, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR die Epoche der Konfrontation sozialer Gesellschaftssysteme der Vergangenheit anheimfalle und die zivilisationsbedingten Unterschiede zum bestimmenden Moment der neuen historischen Ära werden würden.

Die Autoren des enzyklopädischen Wörterbuchs „Die russländische Zivilisation: ethnokulturelle und geistige Aspekte“, das im Jahr 2001 herausgebracht worden war, definierten die Zivilisation als ein „in einer bestimmten Zeit und auf einem bestimmten Territorium existierendes System, in dessen Rahmen eine soziokulturelle historische Gemeinschaft mit einer ihr eigenen Gesamtheit politisch-ökonomischer, kultureller und geistiger, darunter konfessioneller Charakteristika wirkt“.

Zivilisationsgebilde bestimmte der britische Historiker Arnold J. Toynbee als Gemeinschaften, die „größer als eine einzelne Masse, aber kleiner als die gesamte Menschheit“ seien, während S. Huntington die „höchste kulturelle Gemeinschaft von Menschen und die breiteste Ebene für eine Identifikation“ als Zivilisation bezeichnete.

Russland stellt eine besondere Art von Zivilisation mit einer räumlichen Ausdehnung von 9.000 Kilometern hinsichtlich der Breitengrade und bis zu 4.000 Kilometern hinsichtlich der Längengrade dar. Es charakterisieren eine historische große Zeitspanne – ab dem 9. Jahrhundert, ein polyethnisches Wesen – rund 150 Nationalitäten – und eine Vielzahl an Konfessionen – über 60 Glaubensrichtungen. Bei der Herausbildung und Entwicklung der russländischen Zivilisation hat der Staat eine besondere Rolle gespielt. Das einmalige Antlitz der russischen; genauer gesagt: der russländischen Kultur wurde durch eine tiefgreifende Synthese westlicher und östlicher Einflüsse vorausbestimmt. Als eine integrierende Basis für die multinationale Superethnie agierte das russische Volk. Zu seinen Integrationswesenszügen wurden „die Selbstbeschränkung, ein asketisches Leben, Toleranz, der Hang zu Gerechtigkeit und Gewissenhaftigkeit, zu einer Selbstbereicherung der Kulturen, zur Gewährung von Hilfe und zu einem Dienen für die Menschheit“.

Eine der Hauptkomponenten der russländischen Zivilisation — die christlich-orthodoxe Kultur – zeichnete der tiefe gemeinschaftliche moralische Ansatz aus, der dem pragmatischen Individualismus gegenübersteht.

Der bekannte Soziologe und das Akademiemitglied Gennadij W. Ossipow unterstrich: „Welche neuen dramatischen Prüfungen auch Russland ereilen mögen, sein eurasischer Zivilisationstyp verfügt über Lebenskraft und einen dynamischen Charakter“.

Leider verstehen all diese historischen Postulate unsere Gegner besser, mitunter klarer als wir selbst. Unter anderem hatte Zbigniew Brzeziński, der einstige nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, in dem 1994 veröffentlichten Beitrag „Eine übereilte Partnerschaft“ unterstrichen, dass die Hauptaufgabe der Vereinigten Staaten darin bestehe, dass „sich Russland einfach als Russland definieren kann“ und nicht seinen Einfluss und seine Führungsrolle auf die früheren Sowjetrepubliken ausdehne.

Bemerkenswert ist, dass die Transformation unserer theoretischen und konzeptuellen Grundsätze und -einstellungen unsere chinesischen Partner aufmerksam verfolgen. Während meiner Gespräche in Peking haben die chinesischen Russland-Spezialisten viel darüber gesprochen, dass der Europazentrismus (der Euro-Atlantismus und die prowestlichen Ideen) die Idee des Slawentums und des eurasischen Wesens in der Epoche der Herrschaft von Boris Jelzin besiegt hätte. Jedoch seien die Beziehungen mit dem Westen nach den Krim-Ereignissen ihrer Meinung nach verdorben worden: „Russland war gezwungen gewesen, die langjährige Verfolgungsjagd hinsichtlich des großen Europas aufzugeben“.

Und obgleich die Konzeption Europas durch die Konzeption des großen Eurasiens abgelöst wurde, sind die chinesischen Wissenschaftler der Annahme, dass der Europazentrismus in der russischen Elite fest Wurzeln geschlagen habe und die vorrangigen Richtungen Europa und Amerika bleiben würden. Die russischen Vorstellungen über Eurasien würden, betonte Chzhao Huejzhun, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Russland, Osteuropa und Zentralasiens der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften, den Charakter des russischen Menschen reflektieren, der zwischen dem Osten und Westen drifte, gen Osten gehe, aber mitunter auch einen Blick nach Europa werfe.

Unter Berücksichtigung der Vergangenheit und der Gegenwart, aber auch jener Tatsache, dass Asien zu einem weltweiten Wirtschaftszentrum wird, werden für Russland die Vorzüge der Konzeption vom großen Eurasien zu offensichtlichen. In diesen Bahnen liegt die Initiative von Präsident Wladimir Putin für die Gestaltung einer Großen eurasischen Partnerschaft, die die gesamtkontinentalen Anstrengungen unter Beteiligung der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghai-Gruppe und der ASEAN vereinen und für alle Länder des Kontinents – inklusive auch der Staaten der Europäischen Union – offen sein solle. Dies ist ein langer Prozess, wichtig ist aber, das Ziel zu markieren.

Diese Tendenzen kann man auch in der gegenwärtigen russischen Geschichte ausmachen. Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre wurde auf jegliche Weise die These verfolgt, dass wir ein Teil der europäischen Zivilisation seien, dass für uns das Wichtigste sei, wenn sich beinahe nicht mit Europa zu vereinigen, so zumindest die Möglichkeit für ein visafreies Einreisen in die Staaten der Europäischen Union zu erhalten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen die herrschenden Eliten des Landes, davon zu träumen, ein Teil des Westens zu werden. Von daher das Wiederholen der These auf unterschiedliche Manier, wonach Russland eine europäische Zivilisation sei. Vor einiger Zeit war beinahe zum Hauptziel unserer Außenpolitik der Erhalt einer visafreien Einreisemöglichkeit nach Europa erklärt worden.

Wir begreifen aber wohl: Um neue Horizonte zu erreichen, ist es wichtig, seine Identität, unsere Einheit und Solidarität zu bewahren. Die basieren aber auf jenen Werten, die in allen Zeiten sowohl durch das orthodoxe Christentum als auch durch die anderen traditionellen Religionen Russlands verehrt wurden. Dies sind Barmherzigkeit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, die Sorge um den Nächsten und die Familie, die Achtung gegenüber den Eltern und Kindern und natürlich die Liebe zur Heimat. Ein Vergessen dieser Werte führt zu zerstörerischen Konsequenzen, zu einem Persönlichkeitsverlust und einer Degradierung des Menschen, zu dem, dass er zu einem Opfer gemeinster und niederträchtigster Manipulationen wird. Die gemeinsame Pflicht des Zusammenarbeitens, der Verantwortung des Staates, der Kirche, der religiösen Vertreter und der Gesellschaft besteht darin, unsere geistig-moralische, unsere Werte-Grundlage zu bewahren und zu stärken sowie der Jugend, den künftigen Generationen zu übergeben, um sich nicht in der Epoche der stürmischen globalen Veränderungen zu verlieren.

Es ist natürlich, dass zu einem der Glieder dieser Vereinigung auch die Ukraine werden muss, deren Herrschenden derzeit in dem Versuch, ihre Unabhängigkeit zu bekräftigen, versuchen, das gegenseitige Verstehen mit Moskau zu zerstören. Diese Versuche erfolgen entgegen der magistralen, der Hauptbewegung des historischen Prozesses. Die Ukraine ist wie auch Weißrussland zivilisatorisch Russland nahe. Und die Versuche der Kiewer Offiziellen, sich von uns zu distanzieren, sind letztlich zum Scheitern verurteilt.

Uns verbinden lange starke Bande mit dem ukrainischen Volk, und wir müssen unsere brüderliche Zusammenarbeit buchstäblich Stückchen für Stückchen wiederherstellen, obgleich dafür Jahre ins Land gehen können. Die Gemeinsamkeit des historischen Schicksals unserer Völker lässt uns keine andere Wahl.

Bereits 1990 hatte Alexander Solschenizyn in dem Artikel „Wie sollen wir Russland umgestalten?“ geschrieben, dass die Bewahrung der engsten Kontakte zwischen Russland, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan eine obligatorische sei.

Putin hat mehrfach erklärt, dass die Ukrainer und die Russen Brudervölker seien, mehr noch, letztlich sei dies ein Volk. Und wenn wir eine gemeinsame Staatsbürgerschaft haben würden, würden, sagte er am 29. April 2020, sowohl die Russen als auch die Ukrainer dadurch nur gewinnen.

Die heutige Ukraine und ihre Herrschenden erinnern in irgendeiner Art und Weise an Russland der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die damals im Kreml an die Macht gekommenen Männer hatten versucht, den Charakter der Bürger Russlands zu verändern und sich in den Westen zu integrieren. Zum Ergebnis wurden mehrere Wirtschaftskatastrophen, die wir selbst heute nicht in der Lage sind, vollkommen zu überwinden.

Am 7. Februar 2019 bestätigte die Werchowna Rada der Ukraine Verfassungsänderungen hinsichtlich des Kurses des Landes auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO. Von nun an ist in der Präambel der Verfassung die Formulierung über „die europäische Identität des ukrainischen Volkes und die Unumkehrbarkeit des europäischen und euroatlantischen Kurses“ verankert worden.

Hier ist es nützlich, auf die Meinung von S. Huntington zu verweisen, dass es recht schwierig sei, von einer Zivilisation zu einer anderen überzugehen. Dafür sei erforderlich, dass dies nicht nur die Elite wolle, sondern auch der Großteil der Bevölkerung diese Wahl unterstütze. Und außerdem sei es notwendig, dass die andere Zivilisation zustimme, diesen Staat in ihre Reihen aufzunehmen.

Im eurasischen Raum haben über Jahrhunderte hinweg zwei der größten Weltreligionen in einer Koexistenz gewirkt – das Christentum und der Islam als die Glaubensrichtungen von zwei Ethnien, der slawischen und der Turaner. Zur Form ihres Zusammenwirkens war der Dialog geworden.

Im Verlauf der Geschichte ist die russländische Zivilisation als eine einmalige polyethnische und multikonfessionelle Ganzheit und Gemeinschaft entstanden. Dies ist eine in Vielem dank der geografischen Faktoren entstandene Verschmelzung der historischen Kontakte des russischen Volkes mit anderen Gruppen der Ostslawen, mit den Völkern der Ural- und der finnisch-ugrischen Gruppe, der Altai- (besonders der turksprachigen), der kaukasischen und anderen Sprachfamilien West-, Zentral- und Ostasiens sowie mit der pazifischen Kultur. Aus konfessioneller Sicht ist dies das Zusammenwirken des orthodoxen Christentums mit dem Katholizismus, dem Protestantismus und dem nördlichen Islam, dem nördlichen Buddhismus und Lamaismus, aber auch mit vielen lokalen Glaubensrichtungen – dem Schamanismus und dem Heidentum der Völker des Hohen Nordens.

Folglich liegt die Wurzel der wichtigsten Herausforderungen für den europäischen Kontinent in der Krise der nationalen kulturellen Identität der europäischen Zivilisation. Heute erfolgt eine Zerstörung des moralischen Kerns der europäischen klassischen Kultur, die die Menschen aller Kontinente durch eine geistige Energie läuterte. Wie mir scheint, sind zur Ursache für die Degradierung der westlichen Zivilisation die Krise der Moral, der Verlust der moralischen und geistigen Werte, die Aufgabe der durch die Menschheit im Verlauf vieler Jahrhunderte entwickelten Normen und Formen für das Kommunizieren, die Zügellosigkeit der Brutalität und das Unterordnen unter die Forderungen des Kommerzes geworden. Einige Wissenschaftler bezeichnen dies als „anthropologische Euthanasie“ der europäischen Kultur.

Vielleicht ist es angebracht, in diesem Zusammenhang auch an einen der unverdient vergessenen Schöpfer der russischen Politik im Kaukasus, an General Rostislaw Fadejew, zu erinnern. Er hatte geschrieben: „Russland verhält sich gegenüber Asien ganz anders als die westlichen Völker. Die asiatischen Angelegenheiten sind für uns kein Luxus, keine Laune, die sich aus einem Überschuss an Kräften ergibt, keine Befriedigung des einen oder anderen ausschließlichen Ziels wie der Handel, der politische Einfluss und anderes. Für uns sind sie russische Angelegenheiten, die wir in keiner Weise umgehen können. Russland hat wie Janus zwei Gesichter. Das eine ist Europa zugewandt, das andere – Asien. Wir haben uns nicht solch eine Situation geschaffen. Wir sind als ein Staat geboren worden, der gleichermaßen mit Europa und mit Asien verwachsen ist. England besitzt Indien nur, weil es sich für dieses zufällig ergeben hatte, dieses Land zu erobern. Ohne Indien wird es auch jenes England sein. Seiner Insel droht man nicht. Es besteht nicht die geringste Gefahr durch irgendwelche Ereignisse in Asien. Für Russland aber stellt das Ergebnis des Umbruchs, der in dieser Region beginnt, eine Lebensfrage dar“. Und denn wirklich, diese weitsichtigen Worte sind auch heute genauso aktuell und gefragt wie vor einem Jahrhundert.

Fadejew führte seinen Gedanken weiter: „Was für Westeuropa eine Sache des Komforts und des Vorteils ist, ist für Russland eine Sache des Lebens. Indem Russland mit Asien über eine Länge von 10.000 Werst verschmolzen ist, unmittelbar mit all seinen Zentren in Berührung kommt, mit den asiatischen Völkern sozusagen unter einem Dach lebt, ist es mit ihnen durch eine Notwendigkeit verbunden… Ab dem Tag, an dem Russland in das indigene Asien vorrückte und sich untrennbar mit ihm verschmolzen hat, hat es begonnen, sich als eine Notwendigkeit gegenüber der asiatischen Frage wie gegenüber seiner eigenen häuslichen Angelegenheit zu verhalten. Nicht durch eine zufällige Eroberung sind wir nach Asien wie die anderen Europäer geraten. Der riesige Körper Russlands ist selbst in die Mitte dieser überholten und auseinanderfallenden Welt hineingewachsen, nach der von allen Seiten gegriffen wird. Und unabhängig von der Willkür und des politischen Systems muss er auf sie wie ein Magnet wirken, der einen Haufen Eisenspäne berührte“.

Besonders unterstrichen werden muss der Gedanke darüber, dass bei der Bestätigung und Durchsetzung des eurasischen Zivilisationsvektor auf der Basis einer konstruktiven Zusammenarbeit der christlich-orthodoxen und der moslemischen kulturellen und geistigen Gemeinsamkeit gerade dem russischen Volk als ein mächtiges ethnopolitisches Ganzes die Führungsrolle gehören müsse. Das Werden, die Formierung Russlands als Eurasien könne die historische Existenz der Russen sichern. Der Ethnosoziologe Igor M. Kusnezow beschrieb das russländische Zivilisationsmodell „als einen gewissen Ozean: Dies ist ein russischer, in dem wie kleine Kristalle andere Kulturen schwimmen. Dies ist solch eine über Jahrhunderte hinweg entstandene Symbiose, so dass weder die Russen ohne diese kleinen Kristalle normal existieren können, ohne zu sterben, ohne zu verlöschen und ständig die Kultur in einem lebensfähigen Zustand zu halten, als auch diese kleinen Kristalle außerhalb dieses Milieus schon nicht existieren können“.

Hier kann man sich dessen erinnern, dass Pjotr Ja. Tschaadajew seinerzeit die tatarisch-mongolische Herrschaft als ein Ereignis außerordentlicher Wichtigkeit bezeichnete, die Russland mehr Nutzen als Schaden brachte und die Entwicklung und das Reifen des russischen Volkstums förderte. Die Streitgespräche darüber, wie diese Periode der russischen Geschichte zu bewerten ist, dauern auch heute noch an. Und augenscheinlich werden sie lange Zeit fortgesetzt werden. Einzelne Forscher bringen einige negative Momente im Charakter des russischen Menschen gerade mit dieser Periode in einen Zusammenhang. Natürlich, in jeder Nation gibt es positive und negative Wesenszüge. Russland hat aber im Verlauf von Jahrhunderten mehrfach seine historische Rolle als eine passionarische und dynamische Triebkraft des menschlichen Fortschritts bestätigt.

Mit dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs von China und Indien hat man begonnen, über Eurasien wie über ein Zentrum der internationalen Geopolitik und Weltwirtschaft zu sprechen. In der Region befinden sich sechs der neun Nuklearmächte. Sie verfügt über gewaltige Vorräte an Energieträgern. In ihr konzentrieren sich 70 Prozent der Weltbevölkerung. Sie ist aber auch Arena vieler Konflikte und dementsprechend einer Konkurrenz der Weltmächte.

Indien und China, Ägypten und der Iran, die Türkei und Japan, die Länder Zentral- und Südostasiens sind die Erben großer alter Zivilisationen, die der Menschheit einmaliges Wissen und Technologien, Errungenschaften in der Medizin, in der Mathematik, in der Kultur und Kunst hinterlassen haben.

Im Milieu der Intellektuellen, der kreativen Menschen hat Asien stets besondere Gefühle ausgelöst, erschien es als ein wenig rätselhaftes und mystisches und galt als eine Quelle geistiger Kraft und Weisheit, wobei es möglicherweise nicht immer vollends verstanden wird, aber permanent Interesse auslöst.

Was unsere Linie in der künftigen Welt angeht, so erfordert das eurasische Wesen unserer Zivilisation die Anbahnung breitester Kontakte nicht nur mit Europa, sondern auch mit Asien.

Der eurasische Kurs der Außenpolitik Russlands erhielt in den vergangenen Jahren eine formelle Verankerung in einer ganzen Reihe von Initiativen, vor allem in der Bildung der Eurasischen Wirtschaftsunion im Jahr 2015.

In Asien leben 60 Prozent der Erdbevölkerung, befinden sich 21 der 30 größten Städte der Welt. Laut Berechnungen wird bereits in diesem Jahr die Hälfte der Vertreter der Mittelklasse des Planeten durch Einwohner der asiatischen Länder vertreten werden. Heute entfallen auf Asien 36 Prozent der Weltproduktion im Vergleich zu den 26 Prozent zu Beginn der 2000er Jahre. Im Jahr 2018 waren 210 der 500 weltweit größten Unternehmen hinsichtlich der Einnahmen asiatische. Die asiatischen Konzerne sind heute einer der weltweiten Spitzenreiter auf dem Gebiet der digitalen Technologien. Hinsichtlich der erhaltenen Patentanmeldungen übertreffen die asiatischen Länder die anderen Regionen um ein Mehrfaches. Im Ergebnis dessen gewährleisten die Länder des Kontinents über 50 Prozent des Wachstums des globalen BIP, womit sie den internationalen Handel und die Investitionen stimulieren.

Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass sich die herrschenden Kreise der westlichen Staaten nicht mit dem Gedanken abfinden können, dass die Periode ihres Dominierens vorbei ist und andere Zivilisationen immer aktiver in die Arena der Weltpolitik kommen, insbesondere die chinesische, die indische, die russische und die islamische. Die Welt wird real zu einer multipolaren. Und die Versuche Washingtons, durch ein offenes bewaffnetes Eingreifen, einzelner Militärschläge, Sanktionen, Erpressung und verschiedene Formen von Druck die gewünschten Ergebnisse für sich zu erreichen, sind zum Scheitern verurteilt und verstärken lediglich die Spannungen in den internationalen Angelegenheiten.

Das Zentrum des Schwergewichts der heutigen Welt verlagert sich allmählich in die asiatisch-pazifische Region. Und daher wird unter diesen neuen Bedingungen die Rolle Chinas, Indiens, der USA und Russlands zunehmen. Dabei verweisen einige Wissenschaftler auf die Ideen des bekannten englischen Geografen Halford J. Mackinder. Gemäß seiner Konzeption ist das bestimmende Moment im Schicksal der Völker und Staaten ihre geografische Lage. Der Hauptgedanke von Mackinder bestand darin, dass die Rolle einer Achsenregion der internationalen Politik und Geschichte der riesige Binnenraum Eurasiens spiele.

Russland ist laut der Formulierung von Mackinder das „Heartland“ („Herzland“), eine geografische Achse der Geschichte. (Es muss betont werden, dass Mackinder eine Verstärkung der Positionen Russlands auf dem eurasischen Kontinent befürchtet hatte. Nach der Ernennung in das Amt des Vertreters des Britischen Imperiums in Südrussland durch Lord George N. Curzon 1919 versuchte Mackinder im Verlauf von zwei Jahren, einen Plan zur Aufsplitterung Russlands in eine Vielzahl einzelner Staaten zu realisieren. Er war der Meinung, dass man so die „lange Geschichte des russischen Expansionismus“ stoppen könne.)

Die Staaten müssen heute zusammenarbeiten, denn sie werden mit gemeinsamen Problemen konfrontiert. Mit solchen wie die Erschöpfung der Ressourcen, ökologische Schwierigkeiten, Pandemien, Flüchtlinge, die illegale Migration, aber auch die traditionellen Bedrohungen für die Sicherheit.

Viele angesehene europäische Politiker und Politologen sprechen davon, dass eine Annäherung mit Russland für das Überleben Westeuropas notwendig sei. Die Ideen hinsichtlich eines großen europäischen Raums von Lissabon bis nach Wladiwostok werden immer populärer. Andererseits offenbart sich markant das eurasische Wesen der russländischen Zivilisation in solchen Vereinigungen wie die Eurasische Wirtschaftsunion, die Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages, der Shanghai-Gruppe u. a. sowie in den gemeinsamen russisch-türkisch-iranischen Handlungen in Bezug auf Syrien.

Wenn wir die Vorteile unserer geografischen Lage kreativ und effektiv ausnutzen, wird Russland eine führende Rolle in Eurasien spielen.