Wladimir Putin tauschte bei seinem Treffen mit den Vorsitzenden der Parlamentsparteien Antworten mit Wladimir Schirinowskij aus. Der LDPR-Vorsitzende hatte erinnert, dass Russland die Religion von Byzanz geerbt habe, das unter dem Ansturm der „Barbaren aus dem Osten“ untergegangen sei. Der Präsident entgegnete: „Doch bevor die Barbaren aus dem Osten kamen, waren zuerst die Kreuzritter aus dem Westen gekommen und hatten dieses christlich-orthodoxe Imperium geschwächt“.
Es ist zu spüren, dass Putin für das heutige Russland und seine Herrschaft einen prestigeträchtigen Platz in der Geschichte sucht. Zuvor hatte der Präsident bei einem Treffen mit Chefredakteuren zahlreicher Medien erklärt, dass er „an die Theorie des Passionären glaubt“. „Russland hat seinen Höhepunkt nicht erreicht. Wir sind auf einem Marsch, auf einem Marsch der Entwicklung“, hatte er gesagt. Vieles verweist darauf, dass die einheimischen Offiziellen jenen Entwicklungsweg bevorzugen, den man als imperialen bezeichnet. Dies ist eine relative Definition, und der Präsident der Russischen Föderation unterstreicht, dass im Staat moderne Normen eingehalten werden müssten. Er weist kategorisch den „Höhlen-Nationalismus“ („dumpfen Nationalismus“) zurück. „Notwendig ist, dass der Vertreter einer jeden Ethnie, selbst der kleinsten, fühlt, dass dies seine Heimat ist. Er hat keine andere“, sagte er den Duma-Spitzenvertretern. Und den Chefredakteuren, dass der „unendliche genetische Code“ der Bürger Russlands „auf einem Vermischen von Blut … beruht“.
Die gesellschaftlichen Kräfte bemühen sich, die Hoffnungen des Präsidenten zu erraten. Dies offenbarte sich in dem Vorschlag, das Dzierżyński-Denkmal auf den Lubjanka-Platz zurückzubringen. Und sofort wurde eine Initiative des „antisowjetischen“ Flügels der Konservativen, darunter von Vertretern der Russischen orthodoxen Kirche geboren: Anstelle des „Eisernen Felix“ (Spitzname des Gründers der Tscheka Felix Dzierżyński in der einstigen UdSSR und auch heute noch – Anmerkung der Redaktion) sollte man ein Monument für Alexander Newskij oder Zar Iwan III., mit dessen Herrschaft, wie Karamsin (Nikolaj Karamsin, Schriftsteller und Historiker, der Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts in der russischen Literatur den Übergang vom Klassizismus zum Sentimentalismus markierte – Anmerkung der Redaktion) schrieb, „unsere Geschichte die Würde einer wahrhaft staatlichen erlangt“, aufstellen. Iwan III. symbolisiert jene Staatlichkeit, in der die Mutter der russischen Städte Moskau und nicht Kiew wie im Fall mit Wladimir dem Täufer ist. Der Moskauer Fürst hatte die Rus mit dem byzantinischen doppelköpfigen Adler beschenkt und strebte nach gleichberechtigten Beziehungen mit dem katholischen Europa.
Die Frage nach dem Denkmal offenbarte die wichtigste ideologische Entscheidungsfrage (oder das Dilemma) für die heutige Macht. Sie stützt sich auf die historischen Erinnerungen. Wie der Präsident sagte, „ist das Gefühl der Liebe für die Heimat das Herzstück unserer Zukunft“. Dabei ist in erster Linie zweifellos der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gemeint. Die Elite würde jedoch gern den majestätischen bzw. mächtigen Patriotismus von der Last der kommunistischen Doktrin befreien, die für die Zukunft ungeeignet sei. Für die Bürger Russlands wird das Bild einer idealisierten Geschichte Russlands geschaffen, die unablässig in Eurasien verbreitet wird, aber ohne die bolschewistische historische „Verrenkung“. So als wenn Dzierżyński und Stalin keine bolschewistischen Führer, sondern Statthalter des Hauses der Romanows gewesen wären.
Die Geschichte kennt aber keinen Konjunktiv. Daher erfolgt eine qualvolle Arbeit zur „Hybridisierung“ der historischen Erfahrungen. Sowohl das Romanow- als auch das Rote Imperium werden auf einen gemeinsamen Nenner gebraucht, auf den Nenner mit dem Namen „geistige Konfrontation mit dem Westen“. In diesem Dialog bzw. in dieser Auseinandersetzung müsse Russland unbedingt eine gleichberechtigte Seite sein. Aus den Worten Putins ergibt sich, dass die Ansprüche der Russischen Föderation auf eine Rolle in der Weltpolitik keine spontanen seien. Sie würden der Wiederherstellung einer weltweiten Gerechtigkeit dienen. Die Präsidenten der USA sprechen von einer „Ausschließlichkeit“ der amerikanischen Demokratie, legen aber einen Eid auf die Bibel ab, in der nach Meinung von Putin „gesagt wird“, dass „vor Gott alle gleich sind“. Obgleich der Präsident der Russischen Föderation keinen Eid auf die Bibel ablegt, verteidigt er in größerem Maße biblische Werte.
Die Anmerkung über die „Barbaren aus dem Osten“ war keine zufällige. Aus ihr folgt, dass der Landesführung jene historische Figur als am würdigsten erscheint, die sich der geistigen Unterwerfung widersetzte, die aus dem Westen drohte. Die Rus hat das Joch der Goldenen Horde 300 Jahre erduldet, denn die Khans hatten nicht gefordert, den Glauben zu ändern. Es kann vermutet werden, dass bei der Auswahl des Symbols, das für den Lubjanka-Platz bestimmt wird, in erster Linie die Verdienste bei der Verteidigung der religiösen Werte bewertet werden. Und dies bedeutet, dass Alexander Newskij wohl die meisten Chancen haben wird.