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Das russische Kino weilte in „Nürnberg“


Nach einer Verschiebung um eine Woche ist am 2. März in die russischen Filmtheater der Streifen „Nürnberg“ von Nikolaj Lebedjew – des Autors der Filme „Legende Nr. 17“ und „Die Crew“, der ganze sieben Jahre lang keine neue Arbeit vorgestellt – gekommen. Allerdings erfolgte die Arbeit an dem neuen Film, dessen Drehbuch von Lebedjew entsprechend den Motiven einer Arbeit des einstigen stellvertretenden Generalstaatsanwaltes Russlands und nunmehrigen Schriftstellers und Dokumentalisten Alexander Swjaginzew geschrieben wurde, mehrere Jahre. Der für sich sprechende Titel „Nürnberg“ verheißt sowohl ein historisches als auch ein juristisches Drama – alles Beliebige, aber nicht jenes unerwartetes Agenten-Melodrama, das letztlich einen Großteil des Streifens ausmacht.

Der Aufklärer Igor Wolgin (Sergej Kempo), der es bis nach Berlin nach drei Jahren an der vordersten Front geschafft hatte, bittet seinen Kommandeur – Igor Petrenko in dieser winzigen Rolle -, ihn nach Nürnberg zu entsenden. Dort hofft er, nicht nur im Team von Major Migatschjow (Jewgenij Mironow), der gemeinsam mit den entsprechenden Diensten der alliierten Länder die Materialien für einen Gerichtsprozess gegen Nazi-Verbrecher vorbereitet, nützlich zu sein, sondern auch den Bruder ausfindig zu machen. Der Kontakt war mit ihm während des Krieges verloren gegangen. Aber nach dessen Ende erhielt er einige Seiner Briefe an die Mutter. Letztere waren gerade aus Nürnberg abgeschickt worden.

In der fast bis auf die Grundmauern durch Bombardements zerstörten Stadt herrscht Chaos und treibt der Hitler-Untergrund sein Unwesen. Dessen Anführer Helmut (die Rolle eines unheimlichen Faschisten spielt im russischen Film bereits nicht das erste Mal der sympathische Österreicher Wolfgang Cerny) hegt die Absicht, eine Reihe von Provokationen zu organisieren, um den Prozess platzen zu lassen und die angeklagten Komplizen Hitlers unter Führung von Hermann Göhring (gespielt durch den Deutschen Carsten Norgaard) aus dem Gefängnis zu befreien. Dafür entführt er unter anderem die Tochter eines der Anwälte, womit jener zu einer Zusammenarbeit genötigt. Dennoch wird die Gerichtsverhandlung eröffnet und wird fortgesetzt. Die Anklage seitens der UdSSR und in Gestalt von Roman Rudenko (Sergej Besrukow) braucht verzweifelt alle möglichen Beweise. Schließlich verweist die Verteidigung aktiv darauf, dass der Überfall Deutschlands einen vorbeugenden und Verteidigungscharakter getragen hätte. Sozusagen: Wenn nicht wir, so uns. Das Team von Migatschjow, in das übrigens sehr passend der mehrere Sprachen beherrschende Wolgin integriert wird, muss ein geheimes Nazi-Archiv auffinden, das Schwarz auf Weiß die von den Verteidigern der Angeklagten formulierten Thesen widerlegt. Wolgin aber lässt sich ablenken. Die Suche nach dem Bruder lässt ihm keine Ruhe. Und er lernt auch noch das rätselhafte und schweigsame russische Mädchen Lena (Ljubow Aksjonowa) kennen, die sich anbietet, ihm zu helfen, andererseits aber sich äußerst verdächtig verhält.

Die unweigerliche Besorgnis im Zusammenhang mit dem Erwarten irgendeiner Entstellung der Geschichte durch einen erneuten von oben gebilligten patriotischen Kriegsfilm – im Interessen der aktuellen Agenda (besonders unter Berücksichtigung dessen, wie die Agenda heute aussieht und wie in deren Kontext das zu einem symbolträchtigen gewordene Toponym Nürnberg erklingt) zerstreut, wie merkwürdig dies auch sein mag, der Streifen von Nikolaj Lebedjew. Vom Historischen gibt es in ihm nur Szenen aus dem Gerichtssaal – sie kopieren beinahe Sequenz für Sequenz die Dokumentarfilm-Chronik, die unter anderem von sowjetischen Kameramännern gedreht worden war. Die Darsteller der Rollen sind sorgfältig entsprechend ihren Prototypen vorbereitet worden (unter ihnen noch drei weitere deutsche Schauspieler – Klaus Schindler, Thorsten Krohn und Ludwig Hollburg – Anmerkung der Redaktion). Es gibt schockierende Bilder mit Gegenständen aus Menschenhaut. Die Schlüsselworte und entscheidenden Reden erklingen scheinbar (wie sie aber heute klingen, ist eine ganz andere Frage). Dennoch nimmt der Nürnberger Prozess an sich ein Minimum der Spieldauer des Films ein, während sich außerhalb des Saales für die Gerichtsverhandlungen ein Agenten-Melodrama abspielt.

Die Geschichte von Wolgin, seines Bruders, des Mädchens Lenas und des Bösewichts Helmuts, aber auch aller, die auf die eine oder andere Weise in den Bereich der Geschichte geraten, erhebt scheinbar Anspruch auf etwas im Geiste von John le Carré. Durchgängig hinter den Kulissen erfolgende Spiele und Doppelagenten. Nur der Hauptheld verleiht dem aber keine Überzeugungskraft. Der angeblich begabte Aufklärer Wolgin handelt von Mal zu Mal unbedacht, dass unverständlich ist, wie er es überhaupt bis Berlin geschafft hat. Heutzutage sind die Spione natürlich schon nicht jene. Und da muss man gar nicht erst zwecks Bestätigung weit gehen. Man zeigt sie auch im Fernsehen. Damals aber war dies eine andere Sache. Die Liebes- und familiären Sorgen lenken ihn so sehr ab und gefährden mehrfach das gesamte Ringen der Abteilung von Migatschjow. Der kann aber nicht lange zornig auf den netten jungen Burschen sein. Ja, und es scheint, dass er auch selbst Dreck am Stecken hat.

Der Film ist irgendwie mit Ereignissen, Helden und Handlungslinien übersättigt. Dennoch aber hinterlässt er den Eindruck wie von einer Sonntagsfilmserie auf einem der föderalen russischen Fernsehkanäle. Möglicherweise unter anderem auch deshalb, weil „Nürnberg“ letztlich zu einer TV-Serie für einen föderalen Fernsehkanal wird. Aber größtenteils aufgrund dessen, dass sowohl der spektakuläre Titel als auch der historische Kontext der Hintergrund sind und in Vielem die von den Autoren spekulativ ausgewählten vorgeschlagenen Umstände wie auch die bekannten Schauspieler in mehreren Rollen anziehen werden. Hier werden wahrhaftig keine wichtigen Ideen und Helden geboren, sondern wimmeln auf heutige Art und Weise kleine Personen herum, die nichts zu spielen haben und die, während irgendwo parallel Faschisten verurteilt und hinrichtet, nach einem effektvollen Finale mit einer Schießerei und eine Liebes-Happyend streben. Ein weitaus wirkungsvolleres Finale gibt es allerdings im Abspann, wo neben Dankesworten für Sergej Naryschkin (Chef der russischen Auslandsaufklärung und Vorsitzender der militärhistorischen Gesellschaft Russlands – Anmerkung der Redaktion) eben jene realen Bilder aus den Dokumentarfilm-Chroniken vom Nürnberger Prozess gezeigt werden.

Post Scriptum

Der neue Film von Nikolaj Lebedjew wurde Mitte Januar auch von Russlands Präsident Wladimir Putin in Petersburg als Trailer vorgestellt, der jedoch damals ganz andere Erwartungen weckte. Ein opulentes Geschichtsspektakel mit packenden Dialogen etc. Und der Anfang März in die russischen Kinos gekommene Streifen ist natürlich in keiner Weise mit dem Film „Urteil von Nürnberg“ des Regisseurs Stanley Kramer, der 1961 seine Weltpremiere erlebte und mit zwei Oscars und anderen angesehen Filmpreisen 1962 ausgezeichnet wurde, zu vergleichen. Der russische Kinogänger reagierte bereits auf das Melodrama. Am ersten Wochenende des Verleihs wollten nur 317.422 Zuschauer den Streifen sehen, der damit 101.674.110 Rubel eingespielt hatte. Bereits die nächsten Tage werden zeigen, ob „Nürnberg“ seine Investitionen einspielt oder vom Publikum ignoriert wird.