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Dem Tode geweiht, aber nicht gebrochen und gedemütigt


Das Opern- und Balletttheater von Nishnij Nowgorod hat im „Packhaus“-Konzertsaal auf der sogenannten Strelka (einer Landzunge am Zusammenfluss der Wolga und der Oka – Anmerkung der Redaktion) die Ballett-Weltpremiere „Theresien-Quartett“ (andere Variante „Terezín-Quartett“) vorgestellt. Die Inszenierung ist den Gefangenen des Konzentrationslagers (Ghettos) Theresienstadt gewidmet, wo in den Jahren des Zweiten Weltkrieges tausende und abertausende Menschen ums Leben kamen und von wo aus viele nach Auschwitz und andere Todeslager deportiert und dort ermordet wurden.

Für die Balletttruppe wie auch für das Publikum von Nishnij Nowgorod ist ein klassisches Repertoire ein gewohntes – Märchen, Melo-Dramen, romantische Liebesgeschichten. Der künstlerische Leiter des Theaters, Alexej Trifonow, der Autor der Idee und musikalische Leiter des neuen Projekts, hat eine radikale Wende zu moderner Choreografie und zu ganz anderen Themen vollzogen.

Das Konzentrationslager und das jüdische Ghetto im tschechischen Terezín sind in ihrer Art Potemkinsche Dörfer gewesen. Vorzeige-Objekte gibt es überall genug – unabhängig vom politischen Regime und dem Grad dessen, dass man zu einem Tier wurde. Und die Nazis mussten doch den Inspektoren des Internationalen Roten Kreuzes etwas vorweisen! Theresienstadt war durch sein „Künstler-Kontingent“ berühmt. Hier inszenierte man Theateraufführungen (darunter die Kinderoper „Brundibár“, die im KZ 55 Aufführungen erlebte und von deren Darstellern die meisten nicht zu Erwachsenen geworden waren), drehte man fürs Kino (unter anderem den Propaganda-Film „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“) und komponierte und führte Musik auf. Hier hatte man Begabungen gesammelt. Verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Aber nur die Todesjahre aller Talente lagen dicht beieinander – Anfang und Mitte der 1940er.

Diese Thema hatte man im Theater von Nishnij Nowgorod vier zeitgenössischen Choreografen vorgeschlagen, deren Namen in Russland gut bekannt sind: Alessandro Caggegi, Tatjana Baganowa, Maxim Petrow und Alexander Sergejew. Weitaus weniger sind dem einheimischen Publikum die Namen und das Schaffen der Komponisten bekannt, deren Musik Alexej Trifonow schon viele Jahre lang den Hörern zu schenken träumte. Für die Choreografen wählte er Werke für Streichquartette aus – von Pavel Haas (Streichquartett Nr. 3, op. 15, 1938), von Hans Krása (Streichquartett, op. 2, 1921), von Gideon Klein (Partita für Streicher, 1944) und von Erwin Schulhoff (Fünf Stücke für Streichquartett, 1923). In der Aufführung erklingen gleichfalls das 3. Streichquartett, op. 46 von Viktor Ullmann (1943) und Fantasie und Fuge für Streichquartett von G. Klein (1942).

Alle Komponisten sind tschechische und österreichische Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ums Leben kamen. Klein, Haas, Ullmann und Krása waren nach Terezín gebracht worden. Und von dort in den Tod nach Auschwitz oder ins KZ Fürstengrube. Schulhoff verstarb im Lager auf der Wülzburg.

Ihre Musik, gesteht der Initiator des Projekts ein, beeindruckte ihn dadurch, dass „dies ein entblößter Nerv ist. Jede Sekunde vollzieht sich irgendein neues musikalisches Ereignis. Und die Musik ist in jeder Sekunde konzentriert“. „Theresien-Quartett“ ist ein Sich-zuwenden zu den düsteren Seiten der Menschheitsgeschichte, die durch das Licht der Musik erhellt wurden. Gerade die Kunst vermittelt eine Chance, sich über die Realität zu erheben, den Triumph des Geistes zu zeigen, den keinerlei Entbehrungen brechen. Daher ist unsere Aufführung eine Erinnerung daran, dass unter jeglichen Umständen das Wichtigste ist, das Leben zu schätzen. Die zwei Streichquartett-Besetzungen aus Solisten des Orchesters „La Voce Strumentale“ haben eine gewaltige Arbeit geleistet, um diese für eine Aufführung überaus schwierige Musik sauber zu spielen, um in ihr die richtigen gedanklichen Akzente zu finden und sie mit der Arbeit der Choreografen zu verbinden“, sagte Alexej Trifonow.

„Theresien-Quartett“ ist kein Abend von Ballett-Einaktern, sondern eine in sich geschlossene Aufführung. Sie beginnt, als die Musiker in schwarzen Westen und die Darsteller in an Kittel erinnernden Mänteln (wie bei den Juden) und mit Kopfbedeckungen sowie mit ihrem ärmlichen Hab und Gut auf die Bühne durch den in eine Finsternis versunkenen Zuschauersaal kommen. Sie ziehen scheinbar auch uns in ihren Kreis hinein, einen Kreis der dem Tod geweihten, aber ungebrochenen. Auf der Bühne angekommen, entfernen sie sich von uns, verlassen die reale Welt, erfasst von der Vergänglichkeit. Asche zu Asche, Staub zu Staub…

In einen „Rahmen“ ist die Handlung durch die Anstrengungen der Regisseurin Ethel Ioschpa, des Lichtgestalters Iwan Winogradow und des Video-Künstlers Igor Domaschkewitsch gebracht worden. Das Basis-Schwarz, mal wird es aschefarben – von einer Perle bis zu Graphit, und es wird von Asche bestreut, die es noch nicht geschafft hat zu erkalten und durch glimmende Kohlestückchen erbebt, man ist es (das Basis-Schwarz) ein schweres, kaltes und totes.

Die Choreografen haben bei diesem Versuch auf konkrete Handlungslinien verzichtet. Sie waren eher bestrebt, Empfindungen zu vermitteln. Auf gleichwertige Art und Weise ist dies aber nicht allen gelungen. Am expressivsten im Vergleich zu den übrigen war es, wie auch zu erwarten war, bei Tatjana Baganowa.

Vier TänzerInnen, zwei Paare sind in einer Bewegung und in einem Zusammenspiel. In der Kindheit hatte es solche kleinen Püppchen auf einem Untersatz mit einem kleinen Pedal gegeben. In den Beinchen waren Fäden. Du drückst von verschiedenen Seiten her das kleine Pedal nach unten, und das Püppchen tanzt irgendwie unbeholfen. So, als ob es überhaupt nicht tanzen will. Aber eine unbekannte Kraft, nicht aus ihrem Körper, ein nicht zu überwindender Impuls, der nicht durch ihren Verstand ausgelöst wird, nötigen aber dazu. Etwas Derartiges ist im Tanz der Personen von Baganowa zu spüren. Wie brutal doch ein fremder Wille Menschen führt!