Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Der „Fall Nawalny“ und die Krise der Nachkriegsordnung


Im September beging Russland den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Ironischerweise haben sich gerade in dieser Zeit die russisch-deutschen Beziehungen zugespitzt. Das Kabinett von Angela Merkel hat offen verkündet, dass der Oppositionsblogger Alexej Nawalny vergiftet worden sei, und forderte eine internationale Untersuchung. In Gefahr geraten ist das Schicksal des Projekts „Nord Stream 2“. Die russische Seite sagte den Berlin-Besuch von Außenminister Sergej Lawrow ab, der bereits vor einem Jahr abgestimmt worden war. 

Man kann verschiedenartig den „Fall Nawalny“ und die Perspektiven für „Nord Stream 2“ beurteilen. Interessanter ist etwas Anderes. Erstmals gehen solch scharfe Anschuldigungen an die Adresse Russlands nicht von den Führern der USA und Großbritanniens aus, sondern von Deutschland – einem Land, das im Zweiten Weltkrieg verloren hatte. Das Merkel-Kabinett fühlt sich als ein recht starkes, um das ständige Mitglied des Sicherheitsrates der UNO und die Siegermacht, die überdies als ein äußerer Garant für die bestehenden Grenzen Deutschlands auftritt, herauszufordern. Beim Abschluss des Moskauer Vertrags von 1990 hatte Berlin im Übrigen versprochen, keine außenpolitischen Entscheidungen ohne Konsultationen mit den Siegermächten zu treffen. 

Für Russland halten die Spannungen in den Beziehungen auch mit dem anderen Verliererstaat im Zweiten Weltkrieg – mit Japan – an. Der sich dahinschleppende Territorialstreit Moskaus und Tokios hinsichtlich der Zugehörigkeit der Südkurilen-Inseln (der sogenannten Nördlichen Territorien) dauert an. Der Rücktritt von Premierminister Shinzō Abe stellt die Möglichkeit einer Fortsetzung des russisch-japanischen Dialogs zwecks Abschlusses eines Friedensvertrages in Frage.  

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs schien eine neue Bedrohung für unser Land seitens der Verliererstaaten eine unmögliche zu sein. Deutschland war in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden und wurde durch den Kontrollrat der Alliierten verwaltet. Hinsichtlich des künftigen Deutschlands hatten die Alliierten in Potsdam eine Formel der „vier D“ ausgearbeitet: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung. Japan war einer Besatzungsverwaltung der USA unterstellt worden. Gerade sie hatte Japan die Verfassung von 1947 aufgezwungen, der zufolge „das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation“ verzichtet. 

75 Jahre nach dem Kriegsende können wir schon nicht mehr so kategorisch sein. Deutschland und Japan vermochten sehr schnell (nach historischen Maßstäben) ihr Potenzial nach der für sie katastrophalen Niederlage wiederherzustellen. Deutschland hatte vier Provinzen – Ostpreußen, Poznan, Vorpommern und Schlesien – verloren, aber den Haupt-„Kern“ der deutschen Gebieten bewahrt. Das Territorium Japans wurde auf den Japanischen Archipel begrenzt, das heißt zu den Grenzen von 1854 zurückgebracht. Beide Länder wurden in den 1970er Jahren zu führenden Wirtschaftsmächten. Und obgleich Japan jetzt durch China von dieser Position verdrängt wurde, bewahrt es dennoch ein mächtiges Wirtschaftspotenzial inkl. eines breiten Spektrums an Technologien doppelter Zweckbestimmung, die man sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich verwenden kann. 

Japan hat im Rahmen des Sicherheitsvertrags mit den USA starke Selbstverteidigungskräfte aufgestellt. Bereits 1980 erlaubte das Parlament offiziell, sie außerhalb des Landes „zur Rettung der sich dort befindlichen Bürger Japans“ einzusetzen und erkannte auch sein „Recht“ auf bakteriologische und chemische Waffen an. Seitdem haben japanische Militärs an den Kriegen im Irak und in Afghanistan teilgenommen. Und im Jahr 2011 eröffnete Tokio den ersten ausländischen Stützpunkt in Djibouti. Vier Jahre später genehmigte Japans Parlament, die Selbstverteidigungskräfte für eine Teilnahme an militärischen Konflikten im Ausland einzusetzen. Freilich, diese Teilnahme wurde von einer obligatorischen Zustimmung durch den UN-Sicherheitsrat abhängig gemacht.  

Deutschlands Streitkräfte unterliegen aufgrund des Moskauer Vertrags von 1990 Beschränkungen. Berlin hat jedoch im vergangenen Vierteljahrhundert eine Serie von Präzedenzfällen hinsichtlich deren Einsatzes im Rahmen von NATO- und UN-Operationen auf dem Balkan, in Afghanistan, Afrika und Syrien geschaffen. Es genügt sich dessen zu erinnern, dass deutsche Instrukteure an der Ausbildung kurdischer bewaffneter Peschmerga-Formationen im Norden des Iraks teilgenommen haben. Im Jahr 2016 erhielt Deutschland das Recht auf eine Rotation seiner Streitkräfte auf dem Territorium der osteuropäischen NATO-Mitglieder Polen und der baltischen Staaten, möglicherweise auch der Slowakei und Rumäniens. Deutschland verstärkt schrittweise seinen militär-industriellen Komplex, wobei es neue Waffenarten entwickelt. Seit der Zeit des Wales-Gipfels der NATO von 2014 bezeichnen die Amerikaner Deutschland „als Stütze der osteuropäischen Flanke der NATO“. Die gegenwärtige Krise zwischen Moskau und Berlin beweist, dass Russland eines Tages mit einer Bedrohung des osteuropäischen Blocks unter der Ägide Deutschlands konfrontiert werden kann.   

Russland hat heute keinen Friedensvertrag mit Japan. Schon die UdSSR hatte es abgelehnt, den Friedensvertrag von San Francisco aus dem Jahr 1951 zu unterschreiben. Die Versuche, einen besonderen russisch-japanischen Friedensvertrag auszuarbeiten, die seit 1998 unternommen wurden, haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. Doch auch mit Deutschland haben die Siegermächte nach wie vor keinen vollwertigen Friedensvertrag. Der Moskauer Vertrag von 1990 (Zwei-plus-Vier-Vertrag) war aus juristischer Sicht kein solcher. Dies war ein Dokument über die Bedingungen der Vereinigung Deutschlands und die Wiederherstellung seiner Rechtssubjektivität. Das Vorhandensein eines Friedensvertrages bedeutet, dass die Seiten die Rechnungen miteinander beglichen haben, die mit dem vergangenen Krieg zusammenhingen. Sein Nichtbestehen belegt, dass diese Rechnungen nicht beglichen worden sind. Für unser Land ist dies ein besorgniserregendes Symptom vor dem Hintergrund des ungelösten Problems der „Nördlichen Territorien“ und der in Osteuropa zunehmenden Diskussionen über den Status von Kaliningrad.  

Sowohl Deutschland als auch Japan sind heute Länder mit einer eingeschränkten Souveränität. Unter den Bedingungen einer Zunahme der russisch-amerikanischen Konfrontation und der Krise des UN-Sicherheitsrates kann sich jedoch die Situation verändern. Vor 15 Jahren wurde die Frage nach der Möglichkeit einer Aufnahme Deutschlands und Japans in die die Reihen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der UNO erörtert, was an und für sich eine Aufhebung der Einschränkungen für die Souveränität erfordert. Berlin kann für diese Ziele jegliche schwere Krise in den Beziehungen der USA mit Russland und/oder China ausnutzen. Preußen hatte Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich den Krim-Krieg für eine Vereinigung Deutschlands ausgenutzt. Japan hatte 1911 einseitig die ungleichen Verträge mit den Vereinigten Staaten aufgehoben, wobei es äußerlich die freundschaftlichen Beziehungen mit ihnen bewahrte. Es ist durchaus möglich, dass sich die Geschichte im gegenwärtigen Jahrhundert in einer neuen Runde wiederholen wird.