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Der Futurologe Medwedjew


Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation und Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew trat am Freitag, dem 13. (Mai) in seinem Telegram-Kanal in der Rolle eines Propheten anstehender globaler Unannehmlichkeiten und Erschütterungen auf. Nach seiner Meinung führe der Kampf des Westens gegen Russland die Welt zu einer Serie großangelegter Krisen, die von Grund auf die Architektur der internationalen Sicherheit verändern würden. Darüber stellt er in dem thesenhaften Post „Was wird weiterhin kommen. Oder die Welt nach den antirussischen Sanktionen (ganz und gar keine Prognose)“ seine Überlegungen an.

Der Weltwirtschaft sagt Medwedjew den Beginn einer logistischen, einer Energie-, einer Lebensmittel- sowie einer Währungs- und Finanzkrise voraus, die lokal extreme Formen in Gestalt einer Hungersnot und galoppierenden Inflation haben würden. Die Zukunft sieht der 56jährige Politiker als eine unruhige. Es würden regionale Militärkonflikte erfolgen, Terroristen aktiv werden und neue Epidemien ausbrechen. Das System der internationalen Institute erwarte vor diesem Hintergrund eine Umgestaltung, meint Medwedjew. Gescheiterte Organisation vom Typ eines Europarates würden dem Verfall preisgegeben, und es würden neue Allianzen entstehen, die „sich auf pragmatischen und nicht den ideologischen angelsächsischen Kriterien gründen werden“.

Im Endergebnis werde eine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen, sagt Medwedjew vor, ohne die frühere Amerika-Zentriertheit und mit einer Achtung gegenüber den Interessen der Länder, die akute Widersprüche mit der westlichen Welt besitzen. Unter anderem offensichtlich gegenüber den Interessen Russlands. Offenkundig werde darauf gesetzt, dass im Ergebnis einer zunehmenden Destabilisierung der Westen so geschwächt werde, dass er dem keinen Widerstand leisten könne. Und er werde gar den Wunsch haben, sich zu einigen – wenn man sich des Statements von Medwedjew bei der denkwürdigen Tagung des Sicherheitsrates vom 21. Februar erinnert: „Man wird müde werden und uns selbst bitten, zu Verhandlungen zurückzukehren“.

Dies ist ein optimistisches Szenario, schließlich können die vom stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates versprochenen „Hungersnöte und Erdbeben“ (Matthäus-Evangelium, 24:7, in der russischsprachigen Version auf der Grundlage des Kirchenslawisch: „Hungersnöte und Epidemien“ – Anmerkung der Redaktion) auch mit einer nuklearen Apokalypse enden. Vor solche einer Möglichkeit warnte Medwedjew am Vorabend. Die Überlegungen über einen Einsatz von Kernwaffen evolvieren überhaupt in der letzten Zeit auf eine gefährliche Art und Weise von „Gedanken über Undenkbares“ zu einer sich selbst bewahrheitenden Prophezeiung. In der hypothetischen Karibik-Krise 2.0 kann man eine bestimmte Räson finden: Möglicherweise wird es in solch einer Situation einfacher werden, sich zu einigen. Annehmbare Alternativen werden nicht bleiben. Aber auch die Risiken sind exorbitant. Es ist doch gut, dass auf der „Eskalationsleiter“ noch einige Stufen bleiben. Und sie möchte vorerst keiner nehmen.

Der Hauptmakel der von Medwedjew vorgenommenen futurologischen Skizze ist der, dass sich in ihr, wie merkwürdig es auch sein mag, in gewisser Weise kein Platz für Russland gefunden hat. Angenommen, der Westen schießt sich mit den antirussischen Sanktionen und überhaupt mit dem Kampf gegen die Russische Föderation, was zu einem Verlust der weltweiten Hegemonie durch ihn führt. Und Russland? Wenn man praktisch alle von Medwedjew aufgezählten Krisen auf unser Land bezieht, so ergibt sich auch nicht das erfreulichste Bild.

Eine Hungersnot sowie ein Brenn- und Treibstoffmangel werden Russland augenscheinlich nicht bedrohen. Das Land wird aber bereits mit einer Zerstörung von Lieferketten und einer Inflationsrate, die einen Rekord seit vielen Jahren markiert, konfrontiert, schon ganz zu schweigen von anderen Folgen der Sanktionen. Und dies ist nur der Anfang. Wenn die Welle wirtschaftlicher Turbulenzen den Westen und überhaupt die ganze Welt erfasst, wird es bestimmt nicht besser werden. Es wird nur mehr Scherereien hinzufügen.

Mit einer regionalen Militäroperation schlägt sich Russland bereits herum. Dabei gibt es an seinen Grenzen eine Vielzahl auf Eis gelegter und potenziell neuer Herde bewaffneter Konflikte. Und Interessenten werden sich finden, um sie zu pushen, während Moskau mit der Ukraine beschäftigt ist. Die terroristische Gefahr kann ebenfalls aufgrund der Ablenkung der Aufmerksamkeit des Staates in Richtung anderer Objekte zunehmen. Von neuen Pandemien muss erst gar nicht gesprochen werden. Die ganze Welt sitzt in einem Boot.

Das, worüber Medwedjew nicht gesprochen hat, besteht darin, dass Russland, indem es seine Interessen im Sicherheitsbereich verteidigt, auch gewaltige Kosten zu tragen hat. Und ein würdiger Platz im künftigen Weltorchester der Großmächte ist ihm nicht garantiert. Allerdings ist leicht zu erraten: Da wir nun einmal den Konflikt mit dem Westen für einen existenziellen halten, so werden wir uns auch keine Sorgen um den Preis machen.