In den letzten Wochen haben die Länder des Westens scheinbar das gesamte Arsenal an Mitteln für die Ausübung von Druck auf Russland ausgeschöpft, wenn man von den rein diplomatischen Instrumenten spricht. Die US-amerikanische Botschaft in Moskau hat im Grunde genommen die Ausstellung von Visa auf dem Territorium Russlands eingestellt. Das Europa-Parlament verabschiedete eine Resolution, in der von einem vollständigen Einfrieren der Vermögen von „Oligarchen“, der Abschaltung Russlands vom System SWIFT und einem Embargo für den Kauf unserer Kohlenwasserstoffe die Rede ist. Tschechien verwandelte sich aus einem relativ loyalen EU-Mitglied in einen aggressiven Opponenten in der Art Polens. Kurzum, man feierte die ersten einhundert Tage Bidens im Präsidentenamt mit einem beispiellosen Ausmaß.
Eine derartige Zuspitzung muss entweder mit einer ernsthaften militärpolitischen Krise in der Art der Karibik-Krise oder mit einer „Entspannung“ enden. Die erste Variante kann nicht ausgeschlossen werden. Doch die schnelle Überwindung der Spannungen im Donbass seitens sowohl Russlands als auch der NATO zeigt, dass direkt jetzt die Seiten zu einer Eskalation solch eines Niveaus bereit sind. Für eine „Entspannung“ aber wird zumindest eine neue außenpolitische Strategie des Weißen Hauses gebraucht. Und ungeachtet der beispiellos harten Rhetorik der letzten Jahrzehnte werden solche Varianten durchgearbeitet.
Dies erklärte unter anderem am Montag US-Außenminister Anthony Blinken: „Wir streben nach keiner Eskalation (der bilateralen Beziehungen). Wir würden es vorziehen, stabilere, voraussagbarere Beziehungen zu haben“. Möglicherweise gelingt es, irgendeinen Fortschritt sogar beim russisch-amerikanischen Gipfel zu erreichen, den Biden vorschlägt, in den nächsten Monaten in Europa abzuhalten. Aber dies sind alles taktische Maßnahmen.
Auf einer tieferen bzw. unteren Ebene erörtern die USA weiter einen Regime-Wechsel in Russland als ein strategisches Ziel auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit. Für sie ist es wichtiger, sich nicht mit Putin zu einigen, sondern mit dem, der nach Putin sein wird. Das heißt, es soll auf einen den Interessen der USA entsprechenden Politiker gesetzt werden. Und er soll so unterstützt werden, wo dies möglich ist.
Lange Zeit wurde in der Rolle solch eines Politikers ausschließlich Alexej Nawalny gesehen. Es scheint aber, dass man in den USA bereit ist, die Fehlerhaftigkeit solcher einer Strategie anzuerkennen. Zumindest sind solche Akzente in einer viel Staub aufwirbelnden Veröffentlichung des Magazins „The National Interest“ gesetzt worden. Ihr Autor, Professor Ivan Sascha Sheehan ist Executive Director der School of Public & International Affairs der Universität von Baltimore und repräsentiert einen der bedeutsamsten Think-Tanks, die der Demokratischen Partei nahestehen. Natürlich kann er in seinen Einschätzungen freier und offenherziger sein als die offiziellen Persönlichkeiten, die verpflichtet sind, entsprechend den Regeln des „Kalten Kriegs“ zu handeln.
Also Professor Sheehan erinnert daran, dass die Schlüsselrolle bei der Demontage des sowjetischen Systems nicht die Dissidenten, solche wie Sacharow oder Solschenizyn, sondern die Spitzen der KPdSU – Gorbatschow und Jelzin – gespielt hätten. Und dass allein durch Sanktionen die Staaten nicht die erwünschten Ziele erreichen würden. „Um die bilateralen Beziehungen zu stabilisieren, müssen die Offiziellen der USA langfristig denken und solch eine Russland-Strategie verfolgen, die das autoritäre Regime als eine gewaltige Bedrohung ansieht – wie dies zur Hochzeit des sowjetischen Einflusses gewesen war. Wie schwer es auch sein mag, dies zu akzeptieren, doch die berechneten Handlungen Russlands werden durch strategische Erwägungen und das rationale Treffen von Entscheidungen diktiert“.
Eine rationale Strategie der USA wäre nach Meinung des Autors das Setzen nicht auf den offenen Regimekritiker Nawalny, sondern auf eine Figur aus dem nahen Kreis Putins (https://nationalinterest.org/blog/buzz/joe-biden-needs-new-russia-strategy-183926). Das Problem bestehe darin, dass es schwierig sei, solch eine Figur zu finden. Die alten Liberalen seien praktisch entmachtet, und die neue Generation von Politikern sei um Putin und einen patriotischen Konsens in Vielem durch die Anstrengungen des Westens selbst konsolidiert worden, der mittels Sanktionen ihnen jegliche Alternativen versperrt habe.
Aber auch hier gebe es eine Figur, die den amerikanischen Interessen entsprechen würde und dabei sowohl in die öffentliche russische Macht als auch in den nahen Kreis des Präsidenten hinreichend integriert sei. Dies sei Alexej Kudrin. Professor Sheehan zählt dessen Vorzüge auf: die Treue zu den Idealen der freien Marktwirtschaft, das Vermögen, eine harte monetäre Politik zu verfolgen, die wichtige Rolle im Putin-Team im Verlauf vieler Jahre und die Achtung seitens der Eliten inkl. der Vertreter der bewaffneten und Rechtsschutzorgane (hier übertreibt wohl der amerikanische Professor).
Hierbei ist wichtig zu verstehen: Haben wir es einfach mit Ideen und Wünschen oder mit einer „Erhellung“ einer Strategie, die bereits realisiert wird, zu tun. Natürlich können wir nicht wissen, was sich im Weißen Haus abspielt, doch die öffentliche und teilweise hinter den Kulissen erfolgende Aktivität Kudrins ist bei uns sichtbar.
Und es muss gesagt werden wird, dass ihre große Intensität mit Akzenten sowohl auf eine Bekämpfung der Korruption als auch eine Verteidigung liberaler Werte äußerst ungewöhnlich und riskant in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation aussieht.
Unter Ausnutzung der Funktion des Leiters des Rechnungshofs signalisierte Kudrin im Föderationsrat Systemprobleme und bezweifelte das Erreichen der durch den Präsidenten gestellten Ziele. Zur gleichen Zeit berichtete er über Diebstähle in unterschiedlichen Institutionen in Milliardenhöhe, beispielsweise in der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos. Freilich, die Erklärungen führen selten zu realen Handlungen, um die verlorengegangenen Gelder in den Haushalt zurückzuholen. Aber für die öffentlichen Politik sind spektakuläre Äußerungen wichtiger. Dabei hat sich Kudrin als der einzige hochrangige Staatsbeamte erwiesen, der sich offen gegen das Gesetz über die aufklärende Tätigkeit ausgesprochen hatte, obgleich sich dieser Gesetzesakt offenkundig im Trend zur Einschränkung jeglichen westlichen Einflusses auf die Innenpolitik befindet.
Als Ergebnis hat man angefangen, über Kudrin wie über eine relevante Figur im Machttransfer zu sprechen, was früher beinahe nie zu beobachten war. Erörtert werden zwei Szenarios: der Sessel des Premiers oder die Funktion des Chefs der proliberalen Fraktion in der Staatsduma. Möglich sei auch eine gewisse Hybridlösung: eine Fraktion im Parlament als Sprungbrett ins Amt eines Vizepremiers (die Kremlpartei „Einiges Russland“ wird die Mehrheit haben, und diese Partei wird wohl kaum Kudrin als Regierungschef bestätigen).
Wie dem auch sei, Kudrin bleibt der letzte Vertreter der Liberalen, der in die Kontur der Innenpolitik integriert worden ist und der Zugang zum Zentrum der Annahme von Entscheidungen hat. Daher ist es logisch, dass er als bequemer Verhandlungsführer am Vorabend eines möglichen Machttransfers in Russland angesehen wird. Die theoretischen Grundlagen solch einer Strategie, die auf die Zeiten der Perestroika und des Zerfalls der UdSSR verweisen, sind bereits geschaffen und in dem einflussreichen amerikanischen Medium veröffentlicht worden. Und die öffentlichen Aktivitäten Kudrins an sich und die Diskussionen um seine Figur in den russischen Eliten belegen, dass er zur Rolle „eines Kandidaten von Washington“ bereit ist.