Mehr als sechs Monate militärische Sonderoperation in der Ukraine haben die russische Kultur verändert. Dieser Bereich des gesellschaftlichen Lebens ist zu einem äußerst politisierten geworden. Das Land haben – auf eigenen Wunsch oder aufgrund der Ausübung von Druck – viele Künstler verlassen. Mehreren hat man aufgrund pazifistischer Äußerungen den Zugang zu Bühnen sowie Funk- und Fernsehsendungen versperrt. Ihre Konzerte sind abgesagt worden. Die philharmonische Konzertsaison, die üblicherweise durch Auftritte internationaler Stars bereichert wurde, ist erstmals im 21. Jahrhundert zu einer russischen erklärt worden. Das gleiche betrifft auch die Operntheater. Premieren unter Beteiligung westlicher Inszenierungskollektive sind auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Zum Einsatz kommen nur russische Künstler.
An dieser Tatsache an sich gibt es nichts Schlechtes. Die Russische Föderation ist imstande, nicht nur sich, sondern die halbe Welt mit begabten Musikern zu versorgen. Eine prinzipiell andere Sache ist: Die letzten Jahrzehnte hatte Russland danach gestrebt, in die internationale Musikwelt zu gelangen, und hat es auch geschafft. Es geht dabei nicht nur um Auftritte von Weltstars in russischen Städten (nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg), sondern auch um bedeutsamere Projekte von der Art der ständigen Teilnahme des Ensembles MusicAeterna von Teodor Currentzis an den Salzburger Festspielen oder des Abschlusses eines Vertrages über eine Co-Produktion zwischen dem Bolschoi-Theater und der Metropolitan Opera.
Jetzt kommen aber andere Aufgaben auf die Tagesordnung, die durch die offiziellen Vertreter als wichtigere denn eine Integrierung in das internationale Kultur-Umfeld angesehen werden. Man nehme nur einmal die Arbeitsplatzbeschaffung für Künstler aus den Donbass-Republiken DVR und LVR oder das Befüllen der Spielpläne und TV-Programme mit einem aus ideologischer Sicht notwendigen Inhalt.
Solche gesellschaftlichen Erschütterungen wie die militärische Sonderoperation erfordern ein Begreifen oder eine Unterstützung über die Kultur. Und der Staat versteht dies. Auf die spektakulär antimilitaristischen Auftritte (offene Briefe mit Unterschriften, Posts in den sozialen Netzwerken, Äußerungen in Interviews und eine künstlerische Reflexion – Gedichte, Lieder usw.) muss man antworten. Wünschenswert ist, nicht nur mit Inhaftierungen, Strafen oder im Grunde genommen einem Berufsverbot, das heißt politisch, aber nicht ästhetisch – über eine künstlichere Verarbeitung des Geschehens.
Dieser Prozess des Begreifens erfolgt auch in der Massenkultur. Aktiv bemüht man sich, dessen Ergebnisse zu einer dominierenden Strömung bzw. Tendenz zu machen: da hat beispielsweise Ilja Resnik (84jähriger russischer Schlagertexter) für Lew Lestschenko (80jähriger russischer Schlagersänger) das Requiem „Liebgewonnene sterben nicht“ geschrieben. Sergej Galanin (60jähriger Leader der Rockband „SerGa“) singt das Lied „Der Brief“, und Alexander Marschal (65jähriger Schlagersänger und Rockmusiker) widmet der Sonderoperation den Song „Ein prophetischer Traum“. Ja, und das Lied „Für den Donbass“ aus dem Jahr 2017 hat der Gründer der Band „Agatha Christie“, der 57jährige Wadim Samoilow, aktualisiert.
Direkte Vorgaben, Menschen von den Territorien der Ukraine, die durch die Russische Föderation unter Kontrolle genommen wurde, einzustellen, hat es bisher nicht gegeben. Mehrere Theater haben aber bereits Arbeitsverträge mit Donezker Schauspielern abgeschlossen. Die föderalen Fernsehkanäle haben begonnen, Sänger und Lyriker aus dem Donbass mit ihren Arbeiten zur Unterstützung der Sonderoperation auf den Sender zu bringen. Dies sind beispielsweise der Komponist und Sänger Wlad Sabelin, der Autor des Liedes „Schreib, dass ich Mariupol eingenommen habe“, die Interpretin des Songs „Der Donbass steht hinter uns“, Natalia Katschura, der lyrisch angehauchte Rapper Akim Apatschew und andere. Es ist unschwer anzunehmen, dass es noch mehr solcher Beispiele geben wird. Nach den ersten Testballons wird augenscheinlich ein ganzer Schwung folgen: das Verfassen neuer Lieder, die Aufnahme von Alben, deren Promotion, Konzerttourneen durch das Land… Welcher Teil der Neulinge Talente sind und welcher – Mittelmäßige, die entsprechend der Konjunktur als Trittbrettfahrer unterwegs sind, kann nicht vorausgesagt werden. Man kann sich aber dessen erinnern, dass selbst zu Sowjetzeiten nicht nur Kultur- und Kunstschaffende, sondern auch das einfache Publikum wahre Schöpfer von den Menschen unterschieden konnten, die ausschließlich dank der „Proletarier“- oder „Nationalitäten“-Quote nach oben gekommen waren. Solche 2Stars“ verschwinden gewöhnlich, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Außer Berichte über die Ausgabe staatlicher Finanzen, die für ihr Promoten ausgegeben wurden.
- S.
Freilich gibt es auch junge Bürger Russlands, die auf dem Kulturgebiet durch ihre patriotischen Songs und ähnliche Auftritte auffallen und gar ein riesiges Publikum finden. Zum Beispiel der 30jährige Jaroslaw Dronow aus dem Verwaltungsgebiet Tula, der unter dem Künstlernamen „Schaman“ auftritt. Der Absolvent der Moskauer Gnesin-Musikhochschule fällt nicht nur durch seine blonden Dreads (künstlich herbeigeführte Strähnen verfilzter Kopfhaare) auf, sondern auch durch seine Songs. Ein Renner – auch im Internet – ist derzeit sein Lied „Ich bin ein Russe“. Und wie das sich anhört, können Sie nach Anklicken des folgenden Links erfahren — https://www.youtube.com/watch?v=FAPwIEWzqJE.