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Der Stern „Don Quichottes“


Die Oper „Don Quichotte“ von Massenet hat man zum ersten Mal im Baschkirischen staatlichen Opern- und Balletttheater inszeniert. In der Titelpartie trat der Bass Askar Abdrasakow auf, der auch in der Rolle als Regisseur debütierte. Die Parade historischer Kostüme des Kostümbildners Iwan Skladtschikow und die virtuose Interpretin der Partie der Dulcinée, die Mezzosopranistin Jelena Maximowa, wurden zum Alpha und Omega der Premiere.

Bisher hatte lediglich das Petersburger Marinskij-Theater über den Luxus verfügt, diese Oper des „französischen Tschaikowski“ im Repertoire zu haben, wo im Jahr 2012 das Meisterwerk seinen Einzug erlebte, das durch den Regisseur Yannis Kokkos im Geiste einer angenommenen Vorstellung „nach den Seiten eines geliebten Büchleins“ geschaffen worden war, in dem in einem Karnevalswirbel das Wichtigste untrennbar vom Zweitrangigen ist, das Ewige vom Zeitweiligen, die ersten Ebenen von den zweiten. Gerade in diesem Werk debütierte seinerzeit in der Hauptpartie der Bass Askar Abdrasakow nach dem Italiener Ferruccio Furlanetto, der dem russischen Hörer diese kopfzerbrechend mehrschichtige Opernfigur des romantischen Hidalgos, des sich auf ewig in der Welt seiner unbändigen naiven Phantasien niedergelassenen Humanisten offenbart hatte.

Das Libretto der Oper, das von Henri Cain geschaffen wurde, beruht nicht nur auf dem berühmten lehrbuchartigen Roman von Miguel de Cervantes, sondern auch auf dem wenig bekannten Theaterstück von Jacques Le Lorrain „Le chevalier de la longue figure“ („Der Ritter von der traurigen Gestalt“), von wo das verstärkte Motiv der schönen Dulcinée übernommen wurde. In seiner letzten Oper hat Jules Massenet virtuos, mit einem wilden spanischen Feuer und einer bei weitem nicht altväterlichen Leidenschaftlichkeit gleich mehrere lebens- und künstlerisch wichtige Themen zu einem dramatischen Knäuel verflochten, unter denen sowohl eine Liebeserklärung an den Star der Pariser Oper Lucy Arbell als auch die betont christliche Moral in Gestalt von Don Quichotte sowie das sehr weise Abschiednehmen vom ewigen Theaterfest und alle süßen Reize dieser Welt sind. Der Komponist hat à la Don Quichotte altmodisch der üppigen französischen Tragödie in fünf Akten seine Liebe erklärt, wobei er sie expressiv in den zweieinhalb Stunden seiner Oper unterbrachte, womit er dem im 20. Jahrhundert veralteten Genre buchstäblich eine Alternative eröffnet hätte.

In dem üppigen orchestralen und melodischen Schmuck der Partitur von Massenet kann man verdeckte und offenkundige, große und weniger bemerkbare Assoziationen mit der Opernmusik seiner nahen und fernen Vorgänger vernehmen – von der Arie von Leporello mit dem Register („Registerarie“) aus „Don Giovanni“ im ausführlichen Monolog von Sancho Panza bis zum Motiv aus „Othello“ von Verdi. Und das apologetische Bacchanal der spanischen Tänze und Lieder lässt keinen Zweifel, wie sehr sich Jules Massenet in Bizets „Carmen“ verliebt hatte, dank der auch die einzige Frau in „Don Quichotte“ mit dem Timbre eines Mezzosoprans versehen wurde.

Diese ganze romantisch-barocke, die Rahmen sprengende Opulenz fand in einem riesigen Defilee historischer Kostüme ihren Ausdruck, die zu einer Oper in der Oper wurden und uns buchstäblich dessen zu beschämen schienen, dass wir im letzten Vierteljahrhundert fast völlig das vergessen haben, dass es doch für die Oper überhaupt natürlich ist, sehr schön angezogen zu sein. Vom visuellen Fest, dem Fest für das Auge, gewöhnt man uns aktiv durch „entkleidete“, wirtschaftlich vorteilhafte „moderne“ Inszenierungen ab. (Allerdings kann man sich oft auch unbegabt anziehen und sehr talentiert ausziehen.) Am Vorabend der Premiere veranstaltete der Kostümbildner Iwan Skladtschikow im Theater eine Präsentation seiner Kostüme, von denen 400 genäht, aber auch 200 Kopfbedeckungen und über einhundert Paare an Schuhen angefertigt worden waren. Vierzehn Monaten wurden für die Entwicklung des Bühnenbildes, die Auswahl der Materialien und die mühevolle Anfertigung der Kostüme aufgewandt. Zur Oper „Don Quichotte“ kann man von nun an ins Baschkirische Opern- und Balletttheater allein schon dafür kommen, um einen Blick auf dieses einmalige „interaktive“ Museum des spanischen Kostüms zu werfen, das bis in die kleinsten Details nachgestaltet und angefertigt worden ist – von den hervorragenden Hosenlatzen, Culottes und Reifröcken bis zu den schneeweißen Halskrausen und Diademen, die mit funkelnden Steinen übersät sind. Und im ersten Kleid von Dulcinée hat der Kostümbildner nach eigenem Eingeständnis eine Kopie des Maria-Stuart-Gewands, in dem die große dramatische Schauspielerin Maria Jermolowa aufgetreten war, vorgestellt.

Die ganze irdische und überirdische Pracht und die Verlockung dieser Welt brauchte der Künstler danach, um in der gesamten vernichtenden Schönheit den dramaturgischen Hauptkontrast der Oper-des Romans zu offenbaren, um den betäubenden äußeren Glanz der stillen inneren Welt des intelligenten Haupthelden entgegenzustellen. Im Finale wird mit einem Schlag diese ganze Pracht, diese „Eitelkeit der Eitelkeiten willen und die Seelenqual“ durch eine Welle weggespült, wie nach der Sintflut, in Gestalt des ausgebreiteten Vorhangs, wobei Don Quichotte und der treue Sancho Panza unter dem wunderschönen Mond und unter Myriaden von Sternen – der reinen ungetrübten Natur — zurückbleiben.

Regisseur Askar Abdrasakow inszenierte die Aufführung für einen Triumph der Oper als Genre, in dessen Mittelpunkt ihre Hoheit die Stimme steht. Das bedächtige, zur gleichen Zeit aber auch ausgewogene Tempo im Rhythmus der Aufführung erlaubte, sowohl „sich die Oper anzusehen“ als auch sie sich besonders anzuhören. Maestro Artjom Makarow sparte nicht mit den leuchtenden Farben des Orchesters, wobei er geschickt mit der Veränderung des Maßstabs und der Dimensionen der Hörbarkeit agierte, von pastellartigen Skizzen bis zu großen Bildern, von einem dokumentierenden Realismus bis zu einem hypnotisierenden Impressionismus und Symbolismus. Ihre Dulcinée stattet Jelena Maximowa mit einer reichen Stimme mit einer raffinierten Technik aus, der sowohl die satten, an Ölfarben erinnernde Töne als auch die sanften aquarellartigen untertan waren. Eine Dulcinée mit einer Stimme von solcher Geschmeidigkeit, Grazie, Leuchtkraft und stilistischen Exaktheit gibt es heute auch im Marinskij-Theater nicht. Ihr darstellerisches Talent offenbarte sie in der Kulminationsszene, als Don Quichotte sie bittet, ihn zu heiraten. Der Bühnenbildner gestaltete sie als eine ausgiebige Replik der berühmten Szene der Kurtisane Giulietta mit dem riesigen Spiegel aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach in der Metropolitan Opera. Hier kam Maximowa nicht nur ihre „Carmen“-DNK des Mezzosoprans zupass, sondern auch anspruchsvollere Intonationen und Emotionen, schließlich hatte sich diese Heldin gerade durch die markante Melancholie des Haupthelden „anstecken lassen“, von seinem Dissidententum und Dekadentismus, von der Fähigkeit, zu träumen und das Unsichtbare zu sehen, sowie vom Verzicht auf einförmige und langweilige irdische Vergnügen. Als beneidenswerter Sancho Panza, der buchstäblich seit den Zeiten Cervantes auf dieser Welt steckengeblieben ist, trat der Bass Wladimir Kopytow auf, der einen treuen Diener spielte und sang, der stolz erklärte, dass nur ihm erlaubt sei, sich über die Eskapaden seines Herrn lustig zu machen.

Askar Abdrasakow gestaltete als Regisseur seine Rolle einerseits so, als hätte er in gewisser Weise Schaljapin im Blick gehabt, besonders in der Plastik, andererseits aber hatte er ihr einen völlig anderen Weg eines entrückten Träumers vorgezeichnet, der buchstäblich schon nicht mehr auf der Welt lebt, sondern in oberirdischen Dimensionen schwebt, der ganz und gar kein Interesse für die Grobheiten der irdischen Realität hat, der vom Anfang bis zum Finale in der Welt seiner literarischen Träumte weilte. Die tiefgründige Konzentration auf diesen schwierigen Zustand des halbseligen, halbheiligen Ritters des Geistes erlaubte den Zuschauern/Hörern, unablässig auch seine Bewegungen in Raum und Zeit zu beobachten. In der Szene der Begegnung mit den Räubern, mit dem Verprügeln von Don Quichotte ergaben sich eine Anspielung auf das Schlagen Christi und ein anschauliches Beispiel für die These „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“. In der Sterbeszene des Helden, die so leicht, einfach und naiv aufgelöst wurde, erschien ein Stern, der aus den Händen der vergötterten und in der Tiefe der Bühne wie eine Ikone aufgestellten Dulcinée hervorgekommen war, wie der Stern zur Geburt Christi, der der Welt unauslöschliche Hoffnung schenkte.