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Die Änderungen unterstützte die Mehrheit, die Minderheit ist mit Missmut geblieben


Der letzte Tag des Plebiszits bestätigte die Prognosen, dass die Herrschenden von Anfang an eine sichere Mehrheit – bis zu drei Viertel – für die Verfassungsänderungen haben werden. Am 1. Juli wurden lediglich die aktuellen Ergebnisse ermittelt, die Werte für die vorangegangenen sechs Tage und der elektronischen Willensbekundung blieben bis in die späten Abendstunden unbekannt. Die Opposition hatte damit gerechnet, dass sie gerade die Gegner der Änderungen mobilisiert. Ihre Ressourcen haben sich aber als geringe erwiesen. Hinsichtlich der Qualität der Mehrheit wie auch zu den Methoden, um sie zu erreichen, kann und wird es offensichtlich auch Beanstandungen geben. Aber Präsident Wladimir Putin hat die Vertrauensabstimmung gewonnen. Die Nichteinverstandenen haben sich bereits in Bezug auf eine Antwort festgelegt. In Moskau, Petersburg und einer Reihe anderer Städte haben vereinzelte Proteste begonnen. Die Offiziellen müssen jedoch noch klären, wie der Vertrauenskredit genutzt werden soll. Experten schließen eine Wiederholung des Jahres 2018 nicht aus: Gewinn der Präsidentschaftswahlen – Rentenreform.

Der Präsident spielte am 1. Juli traditionsgemäß die Rolle eines einfachen Wählers. Im Abstimmungslokal zeigte er seinen Ausweis, erhielt seinen Stimmzettel und steckte ihn in die Abstimmungsurne. Der Komplex zur Verarbeitung von Stimmzetteln (auf Russisch: KOIB) begrüßte den Bürger, wie es sich auch gehört, und dankte ihm für die abgegebene Stimme. Putin antwortete darauf mit höflichen Gesten. An diesem Tag war bereits klar, dass er erneut einen Vertrauenskredit seitens der Bürger des Landes erhielt. 

Am letzten Tag des Plebiszits wurden nur die operativen Ergebnisse ermittelt und bekanntgegeben. Wie die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission (ZWK), Ella Pamfilowa, noch einmal erläuterte, werden sowohl die Ergebnisse der sechstägigen Abstimmung, die am 25. Juni begann, als auch die Verteilung der Stimmen unter den Einwohnern Moskaus und des Verwaltungsgebietes Nishnij Nowgorod, die für sich eine Teilnahme an der elektronischen Fernabstimmung gewählt hatten, erst nach Schließung der eigentlichen Abstimmungslokale bilanziert. 

Also waren jene Angaben, die die ZWK am Mittwoch auf den Bildschirmen im Informationszentrum postete, lediglich ein geringer Teil des bereits erfassten Massivs von zig Millionen an Daten.

Aber selbst dieser kleine Querschnitt zeigte, dass auch am letzten Tag vor allem die Anhänger der Änderungen abstimmen gehen. Beispielsweise sahen nach Verarbeitung von etwas mehr als 10 Prozent der Protokolle mit Stand von 19.00 Uhr die Werte so aus: dafür — 70,8 Prozent, dagegen — 28,2 Prozent. Diese Zahlen kamen aus den Regionen des Fernen Ostens und Ostsibiriens, wo im Übrigen eine recht große Ungleichmäßigkeit der Beteiligung zu beobachten war. In den einen Subjekten der Russischen Föderation lag sie über 90 Prozent, in anderen erreichte sie gerade einmal 50 Prozent. Dennoch erlaubte das Extrapolieren der ab dem 25. Juni durchgeführten Exit-Polls die Vermutung, dass dieses Verhältnis gewahrt bleibt. Und die ganze Frage bestand darin, was für eine tatsächliche Anzahl von Stimmen Putin zu seiner Unterstützung erhalten wird. Genau solch eine wie im Jahr 2018 bei den Präsidentschaftswahlen, das heißt über 56 Millionen, oder weniger.

Übrigens, am letzten Tag haben sich die Nichteinverstandenen doch am Krieg der Exit-Poll-Ergebnisse beteiligt. Die von der „Nein!“-Kampagne durchgeführten Exit-Polls haben jedoch gezeigt: In Moskau gab es beispielsweise einen geringen Vorsprung für die Anhänger der Änderungen. Freilich waren in Petersburg die Gegner ein wenig mehr. Im Verlauf des gesamten Tages bewegten sich in beiden Metropolen diese elektoralen Schaukeln hin und her. Und an seinem Ende hatte die Opposition endlich vorteilhafte Proportionen in den Händen. In Bezug auf Moskau – 47 Prozent dafür und 53 Prozent dagegen, in Bezug auf Petersburg – 38 Prozent dafür und 62 Prozent dagegen. Und bereits ab der Tagesmitte begannen in einer Reihe von Städten Festnahmen jener, die beschlossen hatten, im Voraus zu protestieren.

Die „NG“ beschloss, bei der Opposition herauszufinden, ob sie schon mehr oder weniger fertige Pläne für die Postplebiszit-Zeit hat. Der Chef der Jabloko-Partei, Nikolaj Rybakow, erklärt vorerst nur, dass der 1. Juli das „Finale der absurden Sonderoperation „Verfassung-2020““ sei. „Wir betrachten das nichtverfassungsgemäße Durchschleusen der ungesetzlichen Änderungen und die tragisch-komische „Abstimmung“ als einen überaus schweren Schlag gegen die russische Staatlichkeit.“ Denn es würden seinen Worten zufolge nicht nur die Amtszeiten Putins resetted (zurückgesetzt), sondern auch die Stabilität, auf die die Offiziellen so stolz seien.  

Der Sekretär des ZK der KPRF, Sergej Obuchow, erläuterte der „NG“, dass die Kommunisten eine gesamtrussische Umfrage zum Gegenstand der Beteiligung und der Abstimmung an sich durchführen würden. Und natürlich würden sie auch hinsichtlich der Verstöße sowohl in einzelnen Abstimmungslokalen als auch hinsichtlich der gesamten Prozedur des Plebiszits arbeiten. Andrej Piwowarow, einer der Organisatoren der „Nein!“-Kampagne teilte der „NG“ mit, dass dieses Team plane, am 2. Juli seine Aktionen zu diskutieren. Piwowarow an sich hatte aber bereits die Nichteinverstandenen aufgerufen, am Abend des 1. Juli auf den Moskauer Puschkin-Platz für ein Gespräch über die Perspektiven zu kommen. Ungeachtet dessen, dass die hauptstädtische Polizei und Russische Garde ein massives Aufgebot an Einsatzkräften mobilisiert hatte, gab es keinerlei Festnahmen am Abend des 1. Juli. 

Der Präsident der Russischen Vereinigung der Politik-Berater, Alexej Kurtow, ist der Meinung: „Die Offiziellen verstehen, dass das hohe Ergebnis bei der Abstimmung eine Demonstration des Vertrauens ihnen gegenüber ist. Daher werden die Herrschenden augenscheinlich neue Richtungen in der gesetzgeberischen Arbeit erschließen, beispielsweise neue Formate für die Kontakte bereits mit den Wählern testen“. Was die Opposition angeht, so betonte der Experte, dass die „Hauptlehre solch eine ist: Selbst hinsichtlich solch eines für sie eindeutigen Anlasses wie das Resetten der Präsidentenamtszeiten hat sie es nicht vermocht sich abzusprechen“. 

Der Leiter der Politischen Expertengruppe, Konstantin Kalatschjow, unterstrich, dass sich die Situation von 2018 scheinbar wiederholen werde. „Nach dem totalen Ergebnis Putins bei den Präsidentschaftswahlen haben die Offiziellen unpopuläre Maßnahmen in Angriff genommen. Sie führten die Rentenreform durch.“ Jetzt werde sich nach Meinung des Experten der Kreml einer Umverteilung der Wirtschaftsressourcen und einer Korrektur der Wahlgesetze annehmen. Und strategisch haben die Herrschenden zwei Wege: eine Lockerung der Schrauben oder ein Festziehen. Kalatschjow bezweifelt eine Entscheidung zugunsten des ersten, wobei er hervorhebt, dass es am ehesten der Weg einer weiteren Konservierung werden wird. „Selbst die gemäßigten Loyalisten beginnt schon solch eine Position abzustoßen. In einem halben bzw. einem Jahr werden wir sehen, wie der Vertrauenskredit realisiert wird. Wenn die Offiziellen sich auf eine Verringerung des politischen Raums einlassen, so kann dieser Weg zu einer neuen Situation à la Bolotnaja-Platz führen“, unterstrich der Experte. 

Während die Opposition noch auf der Suche nach einer Antwort auf die Ergebnisse des Verfassungsreferendums ist, spricht der Kreml von einem Triumph. Ella Pamfilowa, die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, hatte zuvor am Donnerstag die entsprechenden vorläufigen Endergebnisse des Plebiszits vorgestellt: Beteiligung – 67,97 Prozent, für die Verfassungsänderungen – 77,92 Prozent der Russen, dagegen – 21,27 Prozent.