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Die Aufgabe von Lyman wird zu einem politischen Problem


Die Aufgabe der Kleinstadt Lyman im östlichen Gebiet Donezk durch die russischen Truppen hat eine neue Welle von Kritik an die Adresse des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation und des Generalstabs seitens schon nicht nur von Experten, sondern auch von Politikern ausgelöst. Erstmals werden nach Beginn der militärischen Sonderoperation in Kommentaren offen Generäle namentlich genannt, die angeblich die Schuld an den an der Front aufgetretenen Problemen tragen. Reaktionen des Kremls auf solche Äußerungen sind bisher nicht gefolgt. Und es ist unklar, ob von der höchsten Landesführung irgendwelche Personalentscheidungen getroffen werden.

Das Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, warf das Zurückweichen der russischen Truppen aus Lyman dem Kommandierenden des Zentralen Militärbezirks, Generaloberst Alexander Lapin, vor. „Der Generaloberst hatte an allen Grenzen der Lyman-Richtung mobilisierte Kämpfer aus der LVR und andere Einheiten eingesetzt, aber nicht deren notwendigen Nachrichtenverbindungen, Zusammenwirken und die Zufuhr von Munition gewährleistet“, hatte Kadyrow im Messenger-Dienst Telegram geschrieben. „Bereits vor zwei Wochen hatte mir der Kommandeur der Spezialeinheit „Achmat“, Generalmajor Apti Alaudinow, darüber persönlich berichtet, dass unsere Kämpfer zu einer leichten Zielscheibe werden können… Meinerseits informierte ich den Chef des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation, Valerij Gerassimow, über die Gefahr. Der General versicherte mir aber, dass er nicht an dem Feldherren-Talent Lapins zweifele und nicht denke, dass in Lyman und deren Umgebung ein Rückzug möglich sei“. Nach Meinung Kadyrows „muss man in der Armee Menschen mit einem festen Charakter, kühne und prinzipielle zu Kommandeuren ernennen, die wissen, dass man einen Unterstellten nicht ohne Hilfe und Unterstützung lassen kann“. Dabei schlug das Oberhaupt von Tschetschenien vor, „grundlegendere Maßnahmen zu ergreifen, bis hin zu einer Ausrufung des Kriegszustands in den Grenzgebieten und zu einem Einsatz von Kernwaffen geringer Stärke“.

Das Oberhaupt Tschetscheniens unterstützte auch der bekannte Geschäftsmann Jewgenij Prigoschin, dessen Person die Medien lange Zeit mit dem Wirken der privaten Militärfirma „Wagner“ in Verbindung gebracht hatten und erst vor wenigen Wochen aus dessen Catering-Firma „Concorde“ eine offizielle Bestätigung dafür erhielten. „Die expressive Erklärung Kadyrows ist natürlich nicht ganz in meinem Stil. Ich kann aber sagen: „Ramsan, Prachtkerl, heize ein“, publizierte die Worte Prigoschins sein Pressedienst.

Das Problem der Aufgabe von Lyman verknüpfte auch der frühere Befehlshaber der 58. Armee, Generalleutnant Andrej Guruljew, der heute für die Kremlpartei „Einiges Russland“ in der Staatsduma sitzt, mit Fehlern der russischen Generäle. Er erklärte, dass er die Aufgabe von Lyman aus der Sicht eines Militärs nicht erklären können. Und er bezeichnete das Verlassen dieser Kleinstadt durch die russischen Truppen als ein eine Zäsur setzendes militärisches und politisches Ereignis. „Dies war kein schnell verlaufender Kampf“, erklärte Guruljew. „Für mich ist unklar, warum man die ganze Zeit die Lage nicht richtig bewertete und die Gruppierung nicht verstärkte“. Nach Meinung des Abgeordneten bestehe das „Problem in dem generellen Lügen und Berichten über eine gute Lage“. „Das ganze Problem liegt nicht an der Situation vor Ort, sondern an der Frunsenskaja-Uferstraße (wo sich das Hauptgebäude des russischen Verteidigungsministeriums befindet – „NG“), wo man nach wie vor nichts begreift und die Lage beherrscht“. Der General ist sich sicher, dass, „so lange im Generalstab nicht irgendetwas anderes auftaucht, sich nichts verändern wird. Alles Übrige ist die Folge der vor dort aus verfolgten Politik“. Guruljew führte als Beispiel für eine erfolgreiche Führung der Truppen im Verlauf der Tschetschenien-Kampagnen den einstigen Generalstabschef Anatolij Kwaschin an, „der Kommandos erteilte, eine Direktive verfasste und in die Schützengräben zum Soldaten gekommen war, um zu sehen, wie seine Aufgabe erfüllt wird. Wir haben daher die 2. Tschetschenien-Kampagne erfolgreich abgeschlossen“.

Sowohl die Militärs als auch die Experten und Politiker erwarten jetzt eine Reaktion des Kremls auf diese spektakulären Erklärungen. Es ist üblich die Auffassung zu vertreten, dass im russischen politischen System Anschuldigungen und ähnliche kritische Anmerkungen seitens der einen Staatsbeamten an die Adresse anderer nicht gefördert werden. Mehr noch, jene, die sich nicht billigend über die Handlungen der Spitzenvertreter der Russischen Föderation und der Generalität zu Beginn der Sonderoperation ausgesprochen hatten, bezeichnete man mehrfach als Verräter, wobei behauptet wurde, dass jegliche Kritik in der Russischen Föderation in der Zeit der Kampfhandlungen unzulässig sei, für den Feind arbeite und nur nach dem Sieg (der offensichtlich immer mehr in weite Ferne rückt – Anmerkung der Redaktion) erlaubt sei.

Dennoch teilte Kadyrow am Samstagabend mit, dass er sich mit dem 1. Stellvertreter des Leiters des Präsidialamtes der Russischen Föderation, Sergej Kirijenko (er gilt als der Architekt des Beitritts der Donbass-Republiken DVR und LVR sowie der Verwaltungsgebiete Saporoschje und Cherson zu Russland – Anmerkung der Redaktion), getroffen hätte. „Wir haben gegenstandsbezogen gesellschaftlich relevante Fragen erörtert, die Richtungen bestimmt, auf die man den Schwerpunkt legen muss. Sergej Wladilenowitsch bekundete uns Unterstützung hinsichtlich aller Schlüsselmomente und versprach, vollkommene Unterstützung bei der Lösung bestehender Schwierigkeiten zu leisten“, betonte Kadyrow.

Wie der „NG“ der Vorsitzende des Zentralkomitees der Gesamtrussischen Gewerkschaft der Militärangehörigen, der Kapitän 1. Ranges im Ruhestand Oleg Schwedkow, berichtete, haben die Erklärungen von Andrej Guruljew und Ramsan Kadyrow in den Massenmedien und sozialen Netzwerken „eine wahre Informationsexplosion ausgelöst. Sie haben ein Echo bei den Lesern gefunden, diese Fragen stellen sich die Menschen einander täglich. Und sie bestätigen dies, dass es neben ernsthaften Problemen hinsichtlich eines tiefgründigen Studiums der Zukunft des Kriegsschauplatzes bei der Planung der Sonderoperation Leitungsfehler gibt. Einer von ihnen ist das Fehlen einer Koordination zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen. Jede hat ihren Befehlshaber. Und sie haben wiederum ihre Aufgaben, Pläne, Entscheidungen und Ambitionen. Im Großen Vaterländischen Krieg hatte diese Reibungen der Stab des Obersten Befehlshabers geglättet. Heute aber sehen wir dies nicht“, betonte er.

In den Medien gibt es aber andere Meinungen. Der bekannte Militärkorrespondent aus der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA NOVOSTI, Alexander Chartschenko, hält die Kritik an Lapin aufgrund der Aufgabe von Lyman für eine unbegründete. „Auf jeden Fall sind öffentliche Auseinandersetzungen in Zeiten eines Krieges eine verderbliche Sache. Man muss sich zusammenreißen. Viele Prüfungen stehen bevor. Und es wird ärgerlich sein, wenn man Lapin zum Sündenbock für die Fehler einer großen Anzahl von Zuständigen macht“, schrieb er auf Telegram, wobei er verständlicherweise präzisierte, dass er General Lapin seit 2017 noch aus Syrien kenne und dass Lapin angesichts des großen Personalmangels der Truppen bereits im Juni die Führung des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation gebeten hätte, eine Mobilmachung zu beginnen. „Die Sache liegt ganz und gar nicht an der Feigheit und Inkompetenz eines einzelnen Generals. Das Problem besteht in den Systemen der Nachrichtenverbindungen und Leitung. Und ich fürchte, dass hier selbst die Kräfte Lapins nicht ausreichten, obgleich er auch versuchte, die Situation zu beheben“.

Die Meinung Chartschenkos ergänzt der bekannte Militärkorrespondent von den russischen staatlichen TV-Sendern „Rossia 1“ und „Rossia 24“, Alexander Sladkow, der vor dem Abzug der russischen Truppen in Lyman weilte. „Sie wissen, dass in Lyman Vertreter von drei Ländern standen (von zweien, die bis vor kurzem keine anerkannten waren) und von vier Institutionen. Und nicht ein einziger sich verteidigender Truppenteil hatten Nachrichtenverbindungen mit irgendwem von den Nachbarn“, betonte Sladkow. „Das Fehlen von korrigierenden Kräften für die Artillerie und Luftstreitkräfte, das Ausbleiben eines Austauschs durch Nachrichtenkräfte oder Nachrichtenoffizieren – dies ist bereits eine Krankheit des Systems. Und merken Sie an, ich rufe nicht zu einem Sturz des Generalstabschefs und des Verteidigungsministers auf (was durch den sich kokett gebenden Sladkow mehr als ungewöhnlich wäre – Anmerkung der Redaktion). Ich rufe auf zu begreifen: Uns steht ein Krieg bevor. Ja, und mit solchen Streitkräften werden nicht einmal die Ukraine besiegen. Schlecht ist etwas anderes: Wir haben keine Zeit. Wir können mit Kiew keinen Frieden schließen und uns ruhig vorbereiten und dann bereits „an die Sache zu gehen“.

Mit der Kritik an der Führung des Generalstabs ist auch der Militärexperte und Generalleutnant im Ruhestand Jurij Netkatschjow nicht einverstanden. „Gerassimow macht seine Sache. Er taucht nicht auf den Fernsehbildschirmen auf und macht für sich keine Werbung mit der Durchführung der sogenannten Panzer-Biathlons. Während dem Verteidigungsminister die Kampfgeneräle noch im Sommer meldeten, dass man eine Mobilmachung durchführen müsse, wozu musste man da Zeit für die Show-Biathlons aufwenden?“, fragt er sich. Netkatschjow ist sich sicher, dass mit dem Beginn der Teilmobilmachung der Oberste Befehlshaber und der Generalstab die Situation beheben würden. „Man muss aber die Menschen ernsthaft vorbereiten und ausbilden. Sie müssen auf den Truppenübungsplätzen das Militärhandwerk erlernen. Nur solche Truppen, die von kompetenten Kommandeuren geleitet werden, werden einen Sieg erringen“.

Am Montagmittag nahm Kremlsprecher Dmitrij Peskow gleichfalls Stellung zur Diskussion um die Bewertung der militärischen Sonderoperation nach Aufgabe der Kleinstadt Lyman durch russische Truppen. „Die Oberhäupter der Regionen haben die Vollmachten, ihren Standpunkt zu bekunden, Wertungen zu geben. Dies sind doch die Oberhäupter ganzer Regionen. Und darunter auch Ramsan Kadyrow, der, wie Sie wissen, seit Beginn der militärischen Sonderoperation sehr viel getan und einen sehr großen Beitrag zur Durchführung der Sonderoperation geleistet hat. Und die ganze Republik leistet weiterhin einen sehr großen Beitrag“.