Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die Coronavirus-Statistik der russischen Behörden und ihr Einfluss auf die russisch-deutschen Beziehungen


Die russische Statistik hinsichtlich der Bekämpfung des Coronavirus löst weiterhin Misstrauen bei der Opposition und im Ausland aus. In diesem Kontext äußerte die Ständige Vertreterin des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Russland, Beate Grzeski, beim 23. Forum der „Potsdamer Begegnungen“ im Online-Format Besorgnis und betonte die Notwendigkeit, dass nicht zugelassen werden dürfe, „dass diese Krise uns entfremdet“. Es ist klar, Frau Grzeski hat sich offensichtlich unter anderem auf Beiträge in der russischen oppositionellen Presse und Artikel russischer Oppositioneller in der ausländischen Presse einschließlich der auch von der Mitarbeiterin der „Nesawisimaya Gazeta“ und Schriftstellerin Alissa Ganijewa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichten gestützt.  

In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Meinung des Chefredakteurs der „Nesawisimaya Gazeta“, Konstantin Remtschukow, zu diesem Thema zu hören. Als Antwort auf eine entsprechende Frage im Verlauf einer Diskussion beim Hörfunksender „Echo Moskaus“ betonte er: „Selbst wenn man sich die Zunahme der Gesamtzahl der Verstorbenen vornimmt, zu der es gekommen ist, sagen wir einmal in Moskau im Vergleich zum April des vergangenen Jahres, so ist die Zahl immer noch wesentlich geringer als im Westen. Daher ist in diesem Falle die Frage der Auslegung im Ergebnis der Obduktion dieser Leichen möglicherweise das eine (oder aufgrund der Vorschriften oder der methodischen Anweisungen des Departments für Gesundheitswesen). Hinsichtlich der Fakten aber oder einmal angenommen, dass wir die gesamte Zunahme dem Coronavirus als Ursache zuschreiben können, ist dies dennoch wesentlich weniger. Hier liegt in diesem Falle nichts vor. Es steht die Frage nach dem Kampf von Narrativen, das heißt von Geschichten, die die Ereignisse interpretieren. 

Der Parteien- und politische Kampf verwandelt sich in eine Politik der Narrative. Und die Ökonomie der Narrative wird das, wie du die Ereignisse interpretierst. Daher wird der Kampf zwischen den Regierenden und der Opposition und zwischen den Ländern entsprechend dieser Linie geführt. Das heißt, die Behörden wollen vermelden: „Bei uns gibt es nicht viele Todesfälle. Schauen Sie! Die Obduktion hat gezeigt: Es sind soundso viele Menschen“. Und da wird sofort – wau! – ein Narrativ geschaffen: Nein, diese Behörden sind zu nichts tauglich. 

Das nächste Narrativ: Es mangelt an individuellen Schutzmitteln. Den Ärzten wird kein Lohn gezahlt. Und die Regierenden wollten nur in einem guten Licht dastehen, sich als tolle Leute präsentieren und versicherten, dass „wir allen Ärzten solche Zuschläge zahlen…“ Es stellt sich aber heraus: Das System funktioniert nicht. Obwohl es heute heißt, dass für den April fast alle das Zustehende erhielten. Gemeint sind die Zahlungen an die Ärzte für die Arbeit mit Coronavirus-Patienten.

Aber das ist ein Kampf aufgrund der Fragmentierung des Informationsfeldes… Sie sitzen auf dem Feld, auf dem die Regierenden absolut unbeholfen, debil, ineffizient und diebisch sind. Jemand anders aber sitzt auf einem Informationsfeld, auf dem er stolz auf die Regierenden ist, die effektiv sind, die in der Lage sind, eine gigantische Anzahl von medizinischen Einrichtungen zu organisieren. Wir können aber reden. Für mich ist dies gegenwärtig eine sehr interessante Phase der politischen Entwicklung in Russland: ein Kampf politischer Narrative.“

Original: http://www.ng.ru/politics/2020-05-25/100_echo25032020.html

Vor diesem Hintergrund sollte man aber auch nicht die Meinung der Redaktion außer Acht lassen, die zu den Ergebnissen der letzten Potsdamer Begegnungen geäußert wurde. Sie wurde unter den Überschriften „Warum die russisch-deutschen Beziehungen in keiner Weise aus der Sackgasse herauskommen“ und „Das 23. Forum der Potsdamer Begegnungen hat Moskaus Erwartungen nicht gerechtfertigt“ veröffentlicht.  Und sie bestätigt meines Erachtens die Befürchtungen, die oben durch die Diplomatin Deutschlands geäußert wurden. 

 In dem Redaktionsartikel (http://www.ng.ru/editorial/2020-05-27/2_7871_editorial.html)  heißt es:

„Das dieser Tage im Online-Regime stattgefundene 23. Forum der „Potsdamer Begegnungen“, die seit 1999 regelmäßig als eine Kommunikationsplattform von Vertretern der Zivilgesellschaften Russlands und Deutschlands veranstaltet werden, war – auf jeden Fall in Moskau – mit großen Erwartungen verknüpft worden. Die Coronavirus-Pandemie, die den Erdball erfasste, hat die Notwendigkeit einer Koordinierung der Aktionen der Regierungen aller Länder als eine dringlichste auf die Tagesordnung gebracht. Wobei es sowohl um gemeinsame Aktionen während der Bekämpfung des Unheils, das die Menschheit heimgesucht hat, als auch um eine Neugestaltung der Welt nach der Pandemie geht.  

Gerade von derartigen Erwartungen war die Botschaft des russischen Außenministers Sergej Lawrow diktiert worden. In seiner Wortmeldung setzte der Leiter des Außenministeriums der Russischen Föderation auf die Perspektive qualitativ anderer Beziehungen in der Welt: „In der nächsten Perspektive wird die Coronavirus-Pandemie zu einem der bedeutenden Faktoren, die in der Lage sind, die Entwicklung vereinter Vorgehensweisen auf dem Gebiet der Außenpolitik und der Weltwirtschaft sowie die Forcierung des Zusammenwirkens der Länder und internationalen Institute im Kampf gegen die realen und nicht vermeintlichen Bedrohungen für die Menschheit zu fördern“.  

Es steht außer Zweifel, dass Deutschland in den Plänen Moskaus einen besonderen Platz in Europa als ein Land mit der stärksten Wirtschaft, als ein Land, mit dem Russland historisch sehr Vieles verbindet, einnimmt. Nicht von ungefähr hatte bereits 1952 Stalin die Frage nach der Wiedervereinigung Deutschlands aufgeworfen, das damals durch die Siegermächte im Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war. Natürlich stand für den Generalissimus an erster Stelle die Schaffung eines neutralen Deutschlands, das keinerlei gegen die UdSSR ausgerichteten Militärblöcken angehört. Diese Aufgabe haben im Weiteren in der einen oder anderen Weise auch die anderen Spitzenvertreter des Sowjetstaates – bis hin zu Michail Gorbatschow – verfolgt. Ja, und auch für den gegenwärtigen Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, ist dieses Thema nie von der außenpolitischen Tagesordnung verschwunden. 

Natürlich, viele Deutsche sind den Völkern der einstigen UdSSR für die Befreiung von der Nazi-Diktatur dankbar. Dieser Moment der Dankbarkeit fand seine Reflexion in der Wortmeldung von einem der gegenwärtigen Organisatoren der „Potsdamer Begegnungen“, des früheren Ministerpräsidenten von Brandenburg, Matthias Platzeck, der unterstrich, dass „der große Sieg über den Hitlerfaschismus eine Entwicklung möglich machte, die uns heute vereint“.  

Anders – und pragmatischer – sieht die heutige Situation und die Zukunft der russisch-deutschen Beziehungen Bundesaußenminister Heiko Maas. Er wandte sich ebenfalls mit einer Botschaft an die Teilnehmer des Forums. Der deutsche Minister erkannte die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zur konkreten Frage – zum Kampf gegen das Coronavirus – an, dennoch aber zog er es vor, zurück zu schauen. Anders kann man seinen Exkurs in das Jahr 2014 mit einer Konstatierung der aufgekommenen Spannungen in den Beziehungen Russlands mit Deutschland und dem Westen nicht erklären. Von daher ergebe sich die wichtigste Schlussfolgerung: Die entstandene Spannung müsse man auf einer multilateralen Grundlage beseitigen. Und Russland müsse seinen Beitrag leisten. 

Gründe für den Optimismus, der im Grußwort von Sergej Lawrow anklang, hat der Chefredakteur der Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“ und Vorsitzende des Präsidiums des Rates für Außenpolitik, Fjodor Lukjanow, nicht ausgemacht. „Wir sehen“, sagte er, „dass uns nach der Zwangspause aufgrund der Pandemie-Restriktionen die schrittweise Wiederbelebung der Politik genau zu den Problemen, Konflikten und Missverständnissen zurückbringt, die es auch früher gegeben hat. Deutschland bleibt den Ideen der atlantischen Solidarität treu und sucht gerade in ihnen eine Stütze für seine Existenz. Daher bleibt die Idee eines vereinten Europas von Lissabon bis nach Wladiwostok ein unerreichbarer Traum für die nüchtern denkenden Politiker auf dem europäischen Kontinent.“