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Die deutsch-russischen Beziehungen eine Matrjoschka von Krisen


Die Beziehungen Moskaus und Berlins machen eine neue Krise durch. Die schwere Vergiftung von Alexej Nawalny und die ihr folgenden Aussagen deutscher Experten, dass der Anschlag auf den Oppositionspolitiker mit Hilfe einer schwer zu beschaffenden Substanz aus der „Nowitschok“-Gruppe verübt worden sei, haben die russisch-deutsche Zusammenarbeit in Gefahr gebracht. Politiker der Bundesrepublik haben angefangen, von möglichen Sanktionen und sogar einem Einfrieren des Projektes „Nord Stream 2“ zu sprechen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte den für den 15. September geplanten Berlin-Besuch ab.

Doch ungeachtet der breiten Aufmerksamkeit der Politiker und Öffentlichkeit ist die tragische Geschichte mit Nawalny keine Ursache, sondern eines der Elemente der Krise, die die Beziehungen Russlands und Deutschlands tangierte. Um das dieser Krise besser zu verstehen, muss man sie wie eine Matrjoschka auseinandernehmen und auf den verschiedenen Ebenen analysieren.  

Die Spitze des Eisberges

Ganz an der Oberfläche befinden sich vereinzelte, jedoch recht ernsthafte Ereignisse, die in der letzten Zeit eine Abkühlung in den russisch-deutschen Beziehungen ausgelöst haben. Zu denen kann man den „Fall des Mädchens Lisa“, den Anschlag auf Sergej Skripal auf dem Territorium des Bündnispartners von Deutschland Großbritannien, die Ermordung von Zelimkhan Khangoshvili im Zentrum von Berlin und schließlich die Vergiftung von Nawalny rechnen.

Der „Fall Nawalnys“ besitzt in dieser Liste einen besonderen Status. Im Unterschied zur Ermordung der für die Deutschen aus moralischer Sicht unklaren Figur des Feldkommandeurs Khangoshvili wird der Anschlag auf einen Vertreter der Zivilgesellschaft durch Berlin sehr empfindlich zur Kenntnis genommen. Nicht ohne Grund zogen bei den hitzigen Diskussionen um die Situation im Bundestag Abgeordnete Parallelen zwischen der Vergiftung des Oppositionellen und der Ermordung von Anna Politkowskaja (am 7. Oktober 2006 in Moskau – Anmerkung der Redaktion). Zu einem wichtigen Faktor wurde das ernsthafte Echo, das die Informationen über das Schicksal Nawalnys in den Medien auslösten. Selbst wenn die deutsche Regierung die Absicht gehabt hätte, das Vorgefallene zu ignorieren, so hätte dies die Öffentlichkeit verhindert.

Nicht vergessen werden darf auch das Streben Berlins nach einer moralischen Führungsrolle in den internationalen Beziehungen. In einer Epoche, in der es scheint, dass alle größten Mächte „die Masken der Tugendhaftigkeit“ ablegen, ist das Kabinett von Angela Merkel bestrebt zu zeigen, dass für Deutschland Fragen der Moral kein leeres Gerede sind. Es genügt sich dessen zu erinnern, dass Deutschland ungeachtet des Unmutes der europäischen Verbündeten ein Embargo für Waffenlieferungen an Saudi-Arabien nach der brutalen Ermordung des Journalisten Jamal Ahmad Khashoggi verhängte. Dementsprechend ist die Regierung verpflichtet, auch auf den Anschlag auf Nawalny zu reagieren. Eine andere Sache ist, dass ein Einfrieren von „Nord Stream 2“ als eine moralische Antwort nicht nur finanzielle Verluste nach sich ziehen wird, sondern auch noch zu einem Wahlkampftrumpf für Donald Trump wird, mit dem sich für Merkel destruktive Beziehungen herausgebildet haben.  

Unruhige Nachbarschaft

Attentate sind zweifellos nicht zu akzeptierende und unmoralische Aktionen. Doch selbst diese Krisen sind zu lösen, wenn es zwischen den Staaten keine Meinungsverschiedenheiten auf einer tieferen Ebene gibt. Im Falle Russlands und Deutschlands geschahen alle oben aufgezählten Ereignisse vor dem Hintergrund der anhaltenden ukrainischen Krise.

Die ukrainische Krise in ihrem jetzigen Zustand ist ein unüberwindliches Hindernis für die Regelung der Beziehungen Russlands und Deutschlands. Gerade der Anschluss der Krim an Russland und der Beginn der Auseinandersetzungen im Südosten der Ukraine führten dazu, dass im deutschen „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ die Russische Föderation zur Kategorie der möglichen Herausforderungen für die Sicherheit gerechnet wurde. Und aus den strategischen Dokumenten ist die These von einer Zusammenarbeit mit Russland verschwunden. Deutschlands Haltung bezüglich der ukrainischen Krise bleibt in der überschaubaren Zukunft eine unveränderte. Das Land wird nicht auf die Sanktionen bis zum Erreichen eines Fortschritts bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen verzichten. Die Mängel dieses Dokuments begreifend, bleibt Berlin ein Verfechter von Minsk-2 und des Normandie-Formats, was eine stillschweigende Ausklammerung des Krim-Problems und ein Sich-konzentrieren auf die brisantesten und theoretisch lösbaren Aufgaben impliziert. 

Ende 2019/Anfang 2020 hatte sich für die deutsche politische Elite eine Vorstellung von einem gewissen Fenster von Möglichkeiten bei der Regelung der Krise herausgebildet. Den Optimismus der deutschen Elite hatten die Unterzeichnung der „Steinmeier-Formel“ durch Kiew und der relative Fortschritt beim Auseinanderziehen der Truppen ausgelöst. Das Bestreben, es zu schaffen, die günstige Situation auszunutzen, offenbarte sich in einer Aktivierung des russisch-deutschen Dialogs und der Beteiligung deutscher Experten an der Ausarbeitung empfehlender Dokumente. Die unerwartete COVID-19-Pandemie hat jedoch das gewonnene Tempo gedrosselt. Und die durch die westlichen Länder negativ wahrgenommenen innenpolitischen russischen Ereignisse, die Vornahme der Verfassungsänderungen und die Vergiftung Nawalnys untergruben die Dialogbereitschaft.    

Schwierigkeiten der Übersetzung

Der Konflikt im postsowjetischen Raum hat markant das Bestehen einer Krise des Verstehens zwischen Russland und Deutschland deutlich gemacht. Erstens unterscheiden sich in der Russischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland die Vorstellungen von den Quellen der Krise in den Beziehungen. Im offiziellen Diskurs unseres Landes hält man für den ersten Schritt zur Verschlechterung der Beziehungen mit den Ländern des Nordatlantikpaktes die Bombardements Jugoslawiens 1999. Und als Ursachen für die Krise werden die Missachtung der Positionen Russlands, die Osterweiterung der NATO und die Versuche des Westens, mit Hilfe bunter Revolutionen seinen Einfluss auf die Länder der GUS auszudehnen, bezeichnet. Deutschland sieht die Krise der Beziehungen mit Russland ab dem Konflikt in der Ukraine oder – als das früheste – ab dem „5-Tage-Krieg“ in Georgien. Und die Ursachen für derartige Handlungen Moskaus sieht es in Vielem in der Wiedergeburt „imperialer Ambitionen“. 

Drittens, es unterscheiden sich die Vorstellung Russlands und Deutschlands darüber, wie die Seiten auf staatlicher Ebene zusammenarbeiten sollten. Während unser Land einen bilateralen Dialog Moskaus und Berlins vorzieht, sind für die BRD das Prinzip eines Multilateralismus und die Gestaltung ihrer Außenpolitik in einem Zusammenwirken mit den europäischen Verbündeten vorrangige. Selbst die Sozialdemokraten, in denen unser Land gern die Fortsetzer der Traditionen von Willy Brandt sehen würde, betonen, dass, während der Zeit des Kalten Kriegs der Dialog mit der UdSSR einen Dialog mit der ganzen Organisation des Warschauer Vertrages bedeutete, so zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei einem Zusammenwirken mit Russland die Positionen der Länder Zentral- und Osteuropas berücksichtigt werden müssten. 

Gleichzeitig aber erscheint die verbreitete These, wonach die Krise in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland in dem grundlegenden Unterschied der Werte stecke, als keine so eindeutige. Zweifellos, die politische Kultur in unseren Ländern unterscheidet sich ernsthaft. Es scheint aber, dass wir in Bezug auf eine Reihe von Fragen (der Rechte der Minderheiten und Gender-Gleichheit) keine grundlegenden Unterschiede der russischen und europäischen Werte haben, sondern Unterschiede der dominierenden Diskurse (des linksliberalen und des sogenannten konservativ-bewahrenden) und der politischen Praxis. Wenn wir uns aber der Geschichte zuwenden, so sehen wir, wie jung die „traditionellen“ Werte sind. Gewiss, die existierenden Unterschiede in der Politik und im Diskurs sind wichtig, doch im Unterschied zu den Werten unterliegen sie in größerem Maße einer Variabilität. 

Vorsicht, die Türen schließen sich

Bedeutet aber alles oben Aufgezählte, dass die russisch-deutschen Beziehungen nicht aus der Krisenspirale herauskommen können? Diese Äußerung scheint eine übermäßig pessimistische zu sein. Deutschland strebte lange Zeit an, nicht die Tür vor der Nase des Partners zuzuschlagen. Dies belegen unter anderem die Anstrengungen, die durch Berlin zur Bewahrung des Projekts „Nord Stream 2“, das aus einem kommerziellen zu einen immer politischeren geworden ist, unternommen werden. Der Vorschlag von A. Merkel, die Diskussion über das Schicksal der Gaspipeline auf eine europäische Ebene zu heben, sehen wie ein Versuch aus, Deutschland die Verantwortung für die endgültige Entscheidung abzunehmen. Das deutsche Establishment hat nichtöffentlich Schlussfolgerungen dazu gezogen, wie empfindlich Russland auf die westlichen Aktivitäten in den Ländern der GUS reagiert, womit die recht vorsichtige Reaktion Berlins auf die Ereignisse in Weißrussland zu erklären ist. 

Nicht eine der Krisen hat zu einem vollkommenen Abbruch in den Beziehungen geführt. Die Zeit arbeitet jedoch gegen uns. In der langfristigen Perspektive muss beunruhigen, dass Russland immer weniger interessant für junge deutsche Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens wird. Die politischen Vertreter, die für eine Bewahrung der Elemente der „Ostpolitik“ plädieren, treten allmählich ab, doch eine ausreichende Arbeit, die auf eine Anbahnung von Kontakten mit der neuen Generation abzielt, wird nicht geleistet. 

Im Jahr 2021 stehen Bundestagswahlen an. Und laut letzten Umfragen erscheint die Bildung einer schwarz-grünen Koalition (CDU/CSU – Bündnis 90/Grüne) als die wahrscheinlichste. In solch einem Falle wird das Amt des Außenministers ein Vertreter der härtesten Kritiker Russlands im deutschen Parlament erhalten. Die Grünen stehen recht sensibel den Problemen der Menschenrechte gegenüber und fordern Berlin auf, eine harte Position hinsichtlich der Außenpolitik Moskaus einzunehmen und auf „Nord Stream 2“ zu verzichten. Und unter den Kandidaten für das Amt des CDU-Chefs und dementsprechend des Kanzlers gibt es sowohl Anhänger der moderaten Linie von Merkel als auch scharfe Kritiker an der Außenpolitik des Kremls und des Gaspipelineprojektes. 

Anders gesagt: Bei der Suche nach einem Ausweg aus der Krise muss man sich beeilen.