Von dem Helden der Aufklärung erfuhr das sowjetische Volk 1964, zwanzig Jahre später, nachdem ihn die Japaner gehängt hatten. Nikita Chruschtschow beschloss, nachdem er den Film „Wer sind Sie, Doktor Sorge?“ gesehen hatte, den Doktor auszuzeichnen, womit er die Führung der Hauptverwaltung für Aufklärung des Generalstabs stark verschreckt und in Verlegenheit gebracht hatte. Bald verlieh man ihm (posthum) den Titel eines Helden der Sowjetunion, in Moskau tauchten ein Sorge-Denkmal und eine Straße mit seinem Namen auf. (Eine ähnliche Causa ereignete sich mit Leonid Breschnew nachdem Ansehen des Mehrteilers „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“, als er den Wunsch bekundete, Stierlitz ausfindig zu machen und auszuzeichnen, den der Schriftsteller Julian Semjonow erfunden hatte.) Der Historiker und Schriftsteller Alexander Kulanow hatte bereits talentiert und ohne ein Flirten mit den Offiziellen den Fall Sorges in dem Buch „Der unbequeme Sorge“ untersucht (Moskau: Verlag „Junge Garde“, 2018). Das neue Buch in Ko-Autorenschaft mit Anna Delone ist ein noch unbequemeres und ungewöhnlicheres. Es geht um die heiße Liebe zwischen der Japanerin Hanako Ishii und dem sowjetischen Kundschafter in Tokio, um ihre langen und qualvollen Versuche, die Erinnerungen an ihren hingerichteten Geliebten wiederherzustellen. Richard Sorge wurde 1895 in einem kleinen Ort bei Baku in der Familie eines deutschen Ingenieurs und einer Russin geboren und gelangte im Alter von drei Jahren mit den Eltern nach Deutschland. Als ein wahrer deutscher Patriot kämpfte er 1914 an der Westfront des Ersten Weltkriegs und wurde „im Fleischwolf von Verdun“ schwer verwundet. Er beendete ein Universitätsstudium, promovierte zum Doktor der Soziologie und begeisterte sich wie auch viele Altersgefährten für die Ideen von Marx und Lenin, schloss sich bald den Kommunisten an und wurde bereits 1923 zu einem Verbindungsmann (Kurier) des Führers der deutschen Kommunistischen Partei Ernst Thälmann mit den Spitzenvertretern der Kommunistischen Internationale in Moskau, wo Sorge bald selbst zu arbeiten begann. Es versteht sich, dass unsere Militäraufklärung ein Auge auf ihn geworfen hatte und ihn als Agent anwarb (im Grunde war er auch bis zur Hinrichtung in dieser Eigenschaft und ohne jegliche Dienstgrade gewesen). Die erste Dienstreise führte ihn 1930 nach China. Dort wirkte schon lange die sowjetische Aufklärung, die den chinesischen Kommunisten half. Sofort nach der Rückkehr reist 1933 der Bürger Deutschlands Sorge als Korrespondent einer einflussreichen deutschen Zeitung nach Japan.
Der wichtigste historische Verdienst von Richard Sorge besteht in den überaus ausführlichen Informationen über die Zusammenarbeit von Deutschland und Japan sowie über die Pläne letzteren in Bezug auf die UdSSR. Wohin sollte der Schlag geführt werden? Gegen den Süden (USA und England) oder gen Norden (gegen die Sowjetunion). Im Wissen um den Kampf innerhalb der japanischen Führungsriege gelang es uns, im April 1941 einen Neutralitätspakt mit Japan zu unterzeichnen. Ich fürchte, dass, wenn die Japaner unser Land während des Krieges gegen das faschistische Deutschland angegriffen hätten, es unerträglich schwer gewesen wäre, an zwei Fronten zu kämpfen. Übrigens, der Wendepunkt in der berühmten Schlacht vor Moskau im Herbst 1941 war nach dem Eintreffen sibirischer Divisionen aus dem Osten eingetreten. In Japan hatte Sorge mit dem deutschen Botschafter Eugen Ott (der zuvor Militärattaché in Tokio gewesen war – Anmerkung der Redaktion) Freundschaft geschlossen. Dies war ein Mann, der über keine große Weitsicht verfügte, sich auf die Intelligenz Sorges stützte und auch einen Roman mit dessen Frau begann (Kundschafter jener Zeit hielten dies nicht für verwerflich und hatten die Interessen der Sache über alles gestellt). Richard Sorge baute ein Netzwerk aus 35 Personen auf. Diese mächtige Geheimdienstgruppe existierte bis zu ihrer Entlarvung im Oktober 1941. Es sei betont, dass die Aufklärung des NKWD und die militärische Aufklärung in den Vorkriegsjahren von der Psychose eines Kampfes gegen die Feinde des Volkes erfasst waren, die durch die Führung um Stalin entfesselt worden war. Verleumdungen und Repressalien waren zu einer Alltäglichkeit geworden. Die Arbeit der im Ausland agierenden Kundschafter war desorganisiert gewesen. (Eine Zeit lang war Sorge gezwungen gewesen, sich mit dem sowjetischen Militärattaché an unsicheren öffentlichen Orten zu treffen, was eine Ursache für das „Auffliegen“ sein konnte.) Sorge und fast der gesamten Gruppe wurde der Prozess mit der Anklage der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Internationale gemacht (nicht zur UdSSR, die Japaner hatten Angst, die Beziehungen zuzuspitzen, die Komintern hatte Stalin aber aufgelöst). Am 7. Oktober 19944 wurden Richard Sorge und seine rechte Hand, der Japaner Ozaki Hotsumi, gehängt.
Hanako Ishii, eine einfache Japanerin, hatte Richard nicht einfach geliebt. Er war für sie zu einem Muster eines Mannes, eines Ritters und Mentors geworden. Das Buch „Ein anderer Sorge. Die Geschichte der Hanako Ishii“ ist auf der Grundlage ihrer Memoiren geschrieben worden. Die Geschichte ihrer Liebe ist berührend und traurig. Mehr noch, die Japan-Wissenschaftler Kulanow und Delone vermochten, dem Leser meisterhaft die Besonderheiten des Alltagslebens und der Gebräuche und des Charakters der Japaner nahezubringen. Selbst die Gespräche der beiden Verliebten sind geschickt unter Berücksichtigung ihrer unzureichenden Kenntnisse der gemeinsamen Sprache vermittelt worden. Das Ungewöhnliche dieser Liebe besteht in ihrer Ewigkeit, in der Unerschütterlichkeit und im selbstlosen Kampf von Hanako um die Wiederherstellung der Erinnerungen an ihren geliebten Mann, was bei weitem nicht einfach war. Ich riskiere, Hanako mit Lady (Elizabeth) Throckmorton zu vergleichen, die den einbalsamierten Kopf des Gatten – des großen Poeten und Staatsmannes Walter Raleigh – an ihrem Bett in einer roten Ledertasche aufbewahrt haben soll. Er war auch hingerichtet worden, freilich für andere Taten. Hanako (sie lebten von 1911 bis 2000 – Anmerkung der Redaktion) war es nicht nur gelungen, eine Exhumierung des Skeletts von Sorge, sondern auch die Errichtung eines Grabsteins an der letzten Ruhestätte in Japan (auf dem Friedhof Tama in Fuchū westlich von Tokio – Anmerkung der Redaktion) zu erreichen. Nach der Anerkennung Sorges als ein Held legten dort sowjetische Militärvertreter regelmäßig Kränze nieder. Richard Sorge war eine große, ungewöhnliche Persönlichkeit, ein uneigennütziger Mann und Idealist. Man hatte unter ihm bereits „zu graben“ begonnen und angefangen, um ihn als einen ausländischen Agenten zu diskreditieren, den man sicherlich nach der Rückkehr nach Moskau erschossen hätte, denn selbst seine Ehefrau Katja Maximowa war sofort nach seinem „Auffliegen“ in der UdSSR unter erfundenen Anschuldigungen festgenommen worden. Warum hatte unsere Aufklärung ein so nicht zu beneidendes Schicksal ereilt? Stalin und seine Umgebung hatten den Kräften der Aufklärung vertraut, in der noch vorrevolutionäre Kommunisten unterschiedlicher Nationalitäten gearbeitet hatten, die aufrichtig an den Marxismus-Leninismus geglaubt hatten. Sie hatten (übrigens gemeinsam mit Stalin) die Parteihymne, die „Internationale“ gesungen: „Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger…“. Und dies etwa nicht eine Weltrevolution? Die Kundschafter hatten dafür ihr Leben riskiert, gerieten aber vorsätzlich oder aufgrund Verleumdung auf die Erschießungslisten für die Anhänger von (Lew) Trotzki mit dessen Idee von der „permanenten Revolution“. Repressalien in der einen oder anderen Form berührten fast alle angesehenen Kundschafter, die mit der Kommunistischen Internationale verbunden waren, sogar die supereffektive „Cambridge Five“ (Kim Philby u. a.) hatte man beinahe ans Messer gebracht.
Nach Meiner Ansicht sind alle diese Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Weltrevolution eine innerparteiliche Kasuistik. Tatsächlich hatten Stalin, die Bolschewiken und die ganze KPdSU bis hin zum Zusammenbruch der UdSSR aktiv Revolutionen und nationale Befreiungsbewegungen in anderen Ländern unterstützt. Heutzutage ist es zu einer billigen Mode geworden, Marx und Lenin sowie die Internationalisten aller internationalen Sünden zu bezichtigen. Sie waren aber Kinder ihrer revolutionären Zeit gewesen. Und das Wichtigste, sie standen für den Schutz und die Verteidigung Russlands. Sie hatten uns geholfen, in dem blutigen Krieg zu siegen. Faszinierende Bücher über Sorge sind für jene denkenden Menschen, die in den Höheflügen und Einbrüchen der Landesgeschichte die Wahrheit suchen. Sie sind für jene, die die Geheimnisse der Aufklärung und Liebe bewegen.