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Die Imitationsdemokratie als postsowjetische Krankheit


Fast 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Selbstliquidierung/dem Verbot der KPdSU liefern die jüngsten politischen Ereignisse in Kirgisien und der Ukraine nicht wenig Material für Überlegungen hinsichtlich der Perspektiven für die Demokratie im postsowjetischen Raum – dem angestrebten Ziel des ganzen Perestroika-Prozesses. 

Üblicherweise wird Kirgisien als eine Demokratie-Oase inmitten der autoritären Regimes Mittelasiens angesehen. Daran, dass seine Entwicklung nicht entsprechend dem für die Region typischen Weg erfolgte, hat eine ganze Reihe von Faktoren „Schuld“. Da ist auch die Persönlichkeit des ersten kirgisischen Präsidenten an sich. Askar Akajew vermochte nicht die Macht in seinen Händen zu konsolidieren. All die 15 Jahre balancierte er zwischen den Clans und anderen einflussreichen Kräften, solange sein instabiles Regime nicht zusammenbrach. Eine andere Voraussetzung war das erwähnte starke Clan-Selbstbewusstsein, genauer gesagt: das Selbstbewusstsein der Landsmannschaften. Erwähnt sei auch, dass das Land arm an Ressourcen ist, was den Oberen nicht erlaubt, an der Rohstoffrente zu parasitieren.   

Dementsprechend war es auch Kurmanbek Bakijew nicht gelungen, das Erbe dieser 15 Jahre zu überwinden, der scheinbar innerhalb von fünf Jahren ein starkes Regime gebildet hatte. Aber gerade zum Zeitpunkt einer Apotheose erfolgte auch sein Fall. Das ist das gleiche, was später mit Viktor Janukowitsch passierte. Der ergebnislose Versuch, das Land zu einer Ordnung zu bringen, das sich mit seinen einflussreichen Clans an Freiheit und Ungebundenheit gewohnt hatte und im Innern gespalten und getrennt ist. 

Nach der Revolution des Jahres 2010 wurde in Kirgisien eine neue Verfassung verabschiedet, die Garantien gegen eine Wiederholung der Versuche einer Machtusurpation geben sollte. Der Präsident konnte von nun an nur eine Amtszeit lang herrschen. Erweitert wurden die Vollmachten der Regierung und des Parlaments. Rosa Otunbajewa, die ehemalige „Präsidentin der Übergangszeit“, unter deren Führung auch das neue Grundgesetz ausgearbeitet wurde, war auf diese, ihre Errungenschaft sehr stolz. Leider hat aber die progressive Verfassung nicht einmal zehn Jahre lang Bestand gehabt. 

Die völlig unbedeutende politische Krise um die Verstöße bei den Parlamentswahlen führte zu einem Resetting des gesamten politischen Systems. Und es ist bereits der Beginn der Arbeit an einer neuen Verfassung bekanntgegeben worden. Die gesamte Konstruktion, die so sorgfältig aufgebaut wurde, brach innerhalb eines Augenblicks zusammen. Das Volk nahm das lokale Weiße Haus in Besitz, der Präsident flüchtete in unbekannte Richtung und gab drei Tage lang keine Lebenszeichen von sich, die politischen Gefangenen wurden aus den Gefängnissen befreit, und die Rechtsordnung auf den Straßen sicherten „freiwillige Helfer der Miliz“ – lies: die persönliche Bürgerwehr der einen oder anderen Politikaster. Der sich in den Morgenstunden noch in Haft befindliche Sadyr Schaparow (und bereits 3,5 Jahre abgesessen hatte) war am Abend Premierminister.    

Die neueste Geschichte Kirgisiens ist bezeichnend durch ihre „üble Reproduzierbarkeit“, wie sich Physiker ausdrücken würden. Uns interessiert aber in diesem Fall: Warum haben fast 30 Jahre „Demokratie“ zu solch einem enttäuschenden Ergebnis geführt? Warum hat das progressive Verfassungsmodell nicht funktioniert? Bevor wir auf diese Frage antworten, versetzen wir uns um einige tausend Kilometer gen Westen, in die Ukraine, wo am 25. Oktober Kommunalwahlen stattgefunden haben. 

Ihr Hauptergebnis, das uns in diesem Kontext interessiert, ist nicht die niederschmetternde Niederlage der Partei von Wladimir Selenskij, sondern der Sieg der amtierenden Bürgermeister beinahe aller Gebietszentren. Wobei nicht selten mit einem Ergebnis wie in autoritären Ländern — 85 Prozent von Wladislaw Atroschenko, des Bürgermeisters von Tschernigow. Dabei sind praktisch all diese Bürgermeister Geschäftsleute, angefangen bei Gennadij Kernes in Charkiw bis hin zu Andrej Sadow in Lwiw. Sie haben in ihrer politischen Tätigkeit nicht wenige Parteien gewechselt. Und bei diesen Wahlen haben die Bürgermeister ihre eigene gebildet – „Proposizia“.  

Was aber verbindet die Ukraine und Kirgisien? Die Imitation demokratischer Strukturen bei einem generellen undemokratischen Charakter der Verwaltung. Auf die vollkommen archaische Matrix des täglichen Lebens wird der ausländische Stil einer Pseudodemokratie aufgelegt. Wie die Stammesclans und Clans der Landsmannschaften in Kirgisien das Leben bestimmten, so bestimmen sie es auch heute. Und der ganze politische Kampf ist das Wesen der Auseinandersetzung zwischen ihnen, wofür auch zu den Wahlen „Parteien“ gebildet werden, die das Auge der westlichen Beobachter erfreuen.

Analog ist es auch in der Ukraine. So wie die Macht in den Händen der einen oder anderen oligarchischen Gruppierungen sowohl im Zentrum als auch in den Regionen gehalten wurde, so wird sie auch weiterhin in ihnen gehalten, darunter durch die Bildung von Scheinparteien. Das Business agiert als ein Synonym der Stärke und Macht, als einzige Quelle von Aktivitäten. Es sei daran erinnert, dass nach der „Revolution“ von 2014 weder der Waffenbauer Prospero noch der Seiltänzer Tibul (Hauptfigur des sowjetischen Märchenfilms „Tibul besiegt die Dickwänste“ von 1966 – Anmerkung der Redaktion) in die Regierungsstrukturen kamen. Gekommen sind aber die Oligarchen Poroschenko, Kolomoiskij, Nemirowskij, Taruta und ihre Handlanger wie Turtschinow. Die Zivilgesellschaft ging leer aus, wie auch nach der orangenen Revolution von 2004, als eben jener Poroschenko die Macht mit Julia Timoschenko geteilt hatte. Unbescholtene Ingenieure, Programmierer, Ärzte oder Bauern wurden keine Minister. Die Macht hat nach wie vor die zutiefst korrumpierte Elite, die Marionetten wie Wladimir Selenskij aufs Trapez bringt, damit er die Rolle eines Proschenko-2 spielt. Diskreditiert er sich zum Ende der Präsidenten-Amtszeit, wird man einen Poroschenko-3 wählen. Und der wird ein Selenskij-2 sein. Und in der Tat, die Politik des gegenwärtigen Präsidenten unterscheidet sich prinzipiell durch nichts von der des Vorgängers, zum Beispiel in eben jenem Donbass.  

Die soziale Matrix ändert sich Jahrhunderte lang nicht. Die Politkorrektheit verlangt aber eine unbedingte Demokratie hier und jetzt, ohne jeglichen Gedanken darüber, ob sie für diese Gesellschaft geeignet ist. Das Stellen dieser Frage an sich wird als Rassismus aufgefasst. Alle Menschen seien ja gleich. Man könne nicht sagen, dass für irgendwen die Demokratie nicht geeignet sei. Im Ergebnis dessen entsteht eine politische Ordnung, die als Pseudodemokratie definiert wird. Ihr markantestes Beispiel ist Afghanistan. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes hatte man, anstatt den zu jenem Zeitpunkt noch lebenden König Mohammed Sahir Schah einzuladen und in seinem Namen irgendeinen starken Führer für die Führung des Landes zu ernennen, eine Komödie „demokratischer Wahlen“ in dem noch vollkommen mittelalterlichen Land gespielt. Natürlich hält sich der Staatsapparat dort dank ausländischer Militärkontingente und kontrolliert weniger als die Hälfte des Landesterritoriums. 

Ähnliche Pseudodemokratien sind heute auch in einer Reihe postsowjetischer Republiken – in Moldawien, der Ukraine, in Kirgisien, Georgien und Armenien – errichtet worden. In diesen Ländern gibt es keine institutionellen Voraussetzungen für ein reales Mehrparteiensystem, denn es gibt kein Begreifen der eigenen Interessen durch die Bürger. Außer vielleicht der vagsten wie „des Beitritts zur EU“, der nicht der gesellschaftlichen Moral entspricht. Dabei gibt es aber den Wunsch sowohl der westlichen Partner als auch der herrschenden Eliten und der zu führenden Basis, die Politesse, die äußeren Formen und den Anstand zu wahren.  

Wie die Erfahrungen Lateinamerikas zeigen, kann eine Pseudodemokratie Jahrhunderte andauern. Wichtiger ist jedoch etwas anderes: Wie wirkt sich das eine oder andere politische System auf das Wohlergehen der Bevölkerung aus? Gewährleistet eine Pseudodemokratie effektiver eine Erhöhung der durchschnittlichen Lebensdauer? Macht sie den Zugang zur Bildung, Medizin und sozialen Versorgung besser? Fördert sie ein schnelleres Wirtschaftswachstum im Vergleich zu einer – sagen wir einmal – Imitationsdemokratie (Russische Föderation oder Kasachstan) oder einem offen autoritären System?