Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die Krim als ein einzelner, aber nicht einziger Fall für das Neuziehen von Grenzen in der UdSSR


Über das Problem der Zugehörigkeit der Krim, über die Rechtmäßigkeit-Widerrechtlichkeit ihrer Übergabe aus dem Bestand der RSFSR an die Ukrainische SSR sind hunderte Artikel geschrieben, eine Vielzahl von Lanzen gebrochen worden. Vorgebracht wurden unterschiedliche Versionen über die Ursachen solch einer Entscheidung von Nikita Chrustschow. Jedoch leiden alle uns bekannten Hypothesen und Erklärungen unter einem ernsthaften Mangel – sie betrachten das Problem an und für sich, außerhalb des zeitlichen Kontexts, losgelöst von der damaligen Politik und ähnlichen Entscheidungen.

Nach Stalins Tod im März 1953 setzte in der UdSSR ein fieberhaftes Reformieren der Machtorgane und des Verwaltungssystems ein, Grundlegend reduzierte man die Anzahl der Ministerien, liquidierte das Büro des Präsidiums des ZK der KPdSU. Und das Präsidium an sich verringerte man zahlenmäßig. Die Veränderungen tangierten aber nicht nur die (Macht-) Vertikale. Die durch den reformatorischen Kitzel angestachelten Erben des Führers beschlossen, auch die gewohnten administrativen Grenzen zu ändern.

So löste man im April 1953 gleich fünf Verwaltungsgebiete auf – die Gebiete Sterlitamak, Ufa, Kasan, Tschistopol und Bugulma. Im Dezember wurde das Verwaltungsgebiet Magadan durch Herauslösung aus der Verwaltungsregion Chabarowsk gebildet. Im Januar 1954 sind an einem Tag in der RSFSR gleich fünf neue Verwaltungsgebiete entstanden – Belgorod, Lipezk, Kamensk, Balaschow und Arsamas. In Weißrussland dagegen liquidierte man in eben jenem Januar 1954 die Verwaltungsgebiete Pinsk, Bobruisk, Polozk und Polesje (Polesien).

In der Ukraine hörte im Februar 1954 das Verwaltungsgebiet Ismail zu existieren auf. Zur gleichen Zeit wurde in diesem Monat die Entscheidung über die Übergabe des Krim-Verwaltungsgebietes an die Ukraine getroffen.

Somit muss man das Schicksal der Halbinsel in einem weiteren Kontext der Chrustschow-Malenkow-Neuerungen sehen. Keiner hatte sich speziell um die Krim gekümmert. Ihr Schicksal ist lediglich ein Einzelfall der administrativen Umgestaltung jener Zeit. Keiner hatte doch gewusst, dass die UdSSR irgendwann zerfallen wird. Und jetzt bereits wird eine Loslösung von Russland keine formelle, sondern eine reale sein.

Schon nach dem Rücktritt des sowjetischen Regierungschefs Georgij Malenkow (er bekleidete dieses Amt von 1953 bis einschließlich 1955) wurden die Umgestaltungen fortgesetzt. Im Juli 1956 liquidierte man eine ganze Unionsrepublik, die Karelo-Finnische. Etwas früher, im Februar 1956 übergab man von Kasachstan mehrere Verwaltungskreise an Usbekistan, und 1963 – noch einmal. Insgesamt vergrößerte sich Usbekistan durch den nördlichen Nachbarn um 36.000 Quadratkilometer, was flächenmäßig um das 1,5fache größer als die Krim war. Wobei der Beschluss darüber wortwörtlich wie auch die Entscheidung über die Halbinsel klang: „Unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeit der Wirtschaft, der territorialen Nähe und der engen Wirtschafts- und kulturellen Beziehungen zwischen dem Kreis Bostandyk des Südkasachischen Verwaltungsgebietes der Kasachischen SSR und der Usbekischen SSR… wird er ab … zur … gehören“. Freilich, 1971 gelang es dem 1. Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Kasachstans, Dinmuchamed Kunajew, jene Entscheidungen teilweise wettzumachen. Und er holte seiner Republik einen geringen Prozentsatz des Territoriums zurück, auf dem ein erheblicher Teil der Bevölkerung lebte.

Die Entscheidungen über die Verkleinerung von Kasachstan wurden mit durchaus verständlichen Zielen getroffen. Erstens, eine Übergabe von Weiden, auf denen die Usbeken ihr Vieh weideten (bei diesen 36.000 Quadratkilometern handelte es sich zum Großteil um trockene bzw. niederschlagsarme und unbewohnte Gebiete); zweitens die Einfachheit der Leitung der Landwirtschaft im Zusammenhang mit dem Anlegen eines Kanals in der Hungersteppe (kasachisch Betpak-Dala für Böse Ebene — eine steppenartige Halbwüste im Zentrum Kasachstans – Anmerkung der Redaktion). Moskau und Taschkent wollten, dass die Leitung des Baumwollanbaus in einer Hand konzentriert wird. Gleichzeitig formierte man in Kasachstan 1992 drei Regionen, von denen jede aus mehreren Verwaltungsgebieten bestand.

Hinsichtlich der Krim sagt man auch oft, dass der Bau des Nördlichen Krim-Kanals, der Wasser aus dem Dnepr für die Halbinsel lieferte, die Grundlage für die Chrustschow-Entscheidung gewesen sei. Man muss jedoch verstehen, dass der Bau des Kanals real erst 1961 begann, sieben Jahre nach der Übergabe der Krim an die Ukraine. Freilich, die eigentliche Entscheidung über den Kanal wurde schon 1951 getroffen. Folglich kann man sagen, dass die Neuaufteilung der Territorien „auf Vorrat“ erfolgte, nicht für die aktuellen Bedürfnisse, aber mit Blick auf die Zukunft.

Chrustschow traf leicht Entscheidungen. Und leicht hat er sie auch aufgegeben. Von den fünf neuen Verwaltungsgebieten des Jahres 1954 hatte man bereits nach drei Jahren drei Verwaltungsgebiete liquidiert – Arsamas, Balaschow und Kamensk. Und nebenbei – das Verwaltungsgebiet Welikije Luki. 1959 ereilte genau solch ein Schicksal das Verwaltungsgebiet Drohobytsch in der Ukrainischen SSR, und 1960 – das Verwaltungsgebiet Molodetschno in der Weißrussischen SSR. Die Entscheidung zur Krim hatte er nicht zurückgezogen. Doch bei all seiner Liebe für die Ukraine hatte Chrustschow wohl kaum die Halbinsel irgendwie besonders behandelt. Für ihn war die Übergabe der Krim an die Ukraine lediglich einer der vielen Fälle einer administrativen Neuaufteilung, die man ihm im Oktober 1964 mit dem Etikett „Subjektivismus und Voluntarismus“ zur Last gelegt hat.

Im Unterschied zu Kasachstan gab es in der RSFSR keine eigene Kommunistische Partei. Und es gab keinen, der eine Rückgabe der Krim lobbyieren konnte. Das Gewicht von Michail Solomenzew, des Vorsitzenden des Ministerrates der RSFSR (1971-1983), war im damaligen Machtapparat im Vergleich zu den ukrainischen Kollegen gering. 1971 war er lediglich Kandidat für das Politbüro, während die 1. Sekretäre des ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine Pjotr Schelest und danach Wladimir Stscherbizkij beide vollwertige Mitglieder des Politbüros des ZK der KPdSU gewesen waren. Daher kam es zu keinerlei umgekehrten Handlungen unter dem Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew, die erlaubt hätten, das moralische Trauma aufgrund der Übergabe der Krim an die Ukraine zu überwinden.

Während sich Kunajew (auch ein Mitglied des Politbüros und alter Freund Breschnews) als ein Betroffener und Opfer aufgrund des Widerstands gegen die Idee, Usbekistan kasachische Gebiete zu übergeben, positionieren konnte (man setzte ihn 1962 ab und holte ihn bereits nach dem Rücktritt von Chrustschow zurück) und danach, wenn auch nur einen Teil der Gebiete zurückholte, so hatten sich in der RSFSR keine solchen „Helden“ gefunden. Die Fusion von Russland und der UdSSR im gesellschaftlichen Bewusstsein hat in diesem Fall eine schlechte Rolle gespielt – es gab keinen stimulierenden Grund, um Aktivität an den Tag zu legen.