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Die Kultur des Umgangs mit Büchern nimmt Abschied von der Hochschulausbildung


Ein Bild von der heutigen Studentenschaft hat der 1. Prorektor der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaftswissenschaften“, Wadim Radajew, in seiner Monografie „Das Unterrichten in der Krise“ vorgestellt. Einen Auszug aus dem Buch veröffentlichte man auf der Internetseite dieser Moskauer Hochschule. Obgleich das Buch nach Eingeständnis des Autors an sich keinen Anspruch darauf erhebt, eine große wissenschaftliche Arbeit zu sein, und es beruht lediglich auf Beobachtungen von Studenten, ist es doch von Interesse.

Also denn: Der Autor hält für eines der Schlüsselprobleme der heutigen Hochschulausbildung die fehlende Bereitschaft der Studenten der neuen Generation, schwierige akademische Texte zu lesen und zu analysieren. Dieses Problem ist das schwerste für die Sozial- und Geisteswissenschaften, wo sich früher vom Wesen her auf solchen Texten der gesamte Prozess der Wissensvermittlung aufbaute.

Die ältere Generation, dies sind Menschen mit einer Kultur des Umgangs mit Büchern. Erzogen wurden sie auf der Basis von Literatur, von schöngeistiger und wissenschaftlicher. Durch das Studium langer Texte erschlossen sich die vergangenen Generationen nicht nur viele Wissenschaften, sondern auch die sie umgebende Welt. Auf solch eine Art und Weise denkt die ältere Generation auch heute. Die Hochschullehrer folgen weiterhin den Traditionen. Und die meisten ihrer Lehrmethoden basieren nach wie vor auf der Bücherkultur und ein Arbeiten mit Texten.

Die Studenten lesen mit immer mehr Unbehagen die ihnen gebotenen schwierigen Texte. Und wenn sie diese lesen (in Vielem unter dem Druck der Hochschullehrer), so tun sie dies anders und nehmen sie auf andere Art und Weise wahr. Sie sind in der Regel nicht geneigt, „sich durch die schwierigen Textkonstruktionen hindurchzuschlagen und den Widerstand des zähen Materials zu überwinden, um den in ihnen verborgenen Sinn zu erschließen“, betont Radajew. Und nicht etwa, weil sie überhaupt nicht zu solch einem Handeln imstande seien. Meisten begreifen sie einfach nicht und fragen: „Und wozu?“. Wozu sollen sie dies tun?

Im Ergebnis prägt sich eine prinzipiell andere Haltung zum Text aus – nicht als eine Quelle eines in seinen Tiefen verborgenen Gedankens, sondern als eine Quelle von Informationen, die „bereinigt, zurechtgeschnitten, verpackt und bereit zum Konsum“ sein müssen. Die Studenten sind es heute gewohnt, Informationen in kleinen Dosen zu erhalten, mit einem erheblichen Anteil von Elementen einer visuellen und akustischen Begleitung. Auf dieser Grundlage hat sich das stetige Streben nach Auszügen und Konspekten, Digests und Nachschlageliteratur im Stil von Wikipedia herausgebildet. Das heißt nach einem Konsum ausgefilterter Informationen, wobei dies auch noch in kleinen Portionen. Und die Soziologen haben bei der Charakterisierung des heute zur Mode gewordenen schnellen Lesens für dieses den Begriff „Surfing“ – ein leichtes Hinweggleiten – gefunden. Solch ein oberflächliches Lesen erlaubt den Studenten, nicht mehr als 20 Prozent des Gelesenen zu erfassen.

Die neuen Studenten-Generationen lesen nicht nur anders, sondern studieren insgesamt auch auf andere Art und Weise. Früher haben die Studenten aus dem von ihnen gewonnenen und erschlossenen Material ihr kulturelles Gepäck zusammengestellt. Solch ein Gepäck haben die Menschen mit Stolz durch das Leben mit sich getragen, prahlten mit ihrem Wissen vor anderen Menschen. Aber jetzt ist der Sinn von alle dem verlorengegangen. Die Hochschullehrer bemerken immer häufiger, dass die (jungen) Menschen mit einem immer geringeren Niveau von Grundwissen und einer allgemeinen Kultur im für die älteren Generationen gewohnten Sinne zum Bachelor-, Magister- oder gar Doktorandenstudium kommen. Das heißt, mit einem geringeren Umfang dessen, was irgendwann einmal gelesen, im Kopf abgespeichert, erschlossen und für lange eingeprägt wurde.

Nicht weniger interessant ist auch solch ein neues Phänomen. Die Vertreter der älteren Generationen nehmen sich der Lösung von Aufgaben an, in denen sie sich in der Regel für Spezialisten halten, betont auch der 1. Prorektor der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften. Die heutigen jungen Menschen, die keine Spezialisten sind, nehmen sich jeglicher Aufgaben an und finden die nötigen Informationen. Aber nachdem sie diese entdeckt bzw. gefunden haben, streben sie nicht an, sich diese einzuprägen, sondern fangen sofort an, mit ihnen zu arbeiten. Im Ergebnis dessen formieren sie kein eigenes Kultur-Gepäck, sondern steuern Informationsströme, wobei sie fertige Gedanken verwenden und diese immer weniger selbständig ausprägen und sie nicht im Gedächtnis behalten.

Wadim Radajew registriert auch solch ein Detail: Die Studenten haben aufgehört, gehaltvolle Fragen zu stellen. Dieses Vermögen wurde aber stets als ein wichtiges Element für das Ausprägen eines kritischen Denkens angesehen. Mehr noch, die Studenten diktieren ihre Forderungen an die Vorlesungen der Hochschullehrer, und dies bereits unter Berücksichtigung ihrer eigenen Bedürfnisse. Die Hochschullehrer müssen immer mehr zu audiovisuellen Methoden greifen, da ein trockener Text von der jungen Generation mit Mühen erfasst wird.

Für den Lektoren wird es immer schwieriger, die ständig schwindende Aufmerksamkeit des Hörsaales zu fesseln. Katastrophal hat sich die Zeit verringert, in deren Verlauf die Studenten die Fähigkeit bewahren, sich auf irgendeinen konkreten Gegenstand zu fokussieren. Radajew führt solche Angaben an: Früher war es möglich gewesen, die Aufmerksamkeit des studentischen Hörsaales im Verlauf von 50 Minuten zu sichern. Bei einer passiven Aufmerksamkeit lässt sich heute der Zuhörer überhaupt nur für wenige Augenblicke fesseln. Laut Beobachtungen in Bezug auf US-amerikanische Studenten ergibt sich beispielsweise, dass sie alle 19 Sekunden umschalten.

Das normale Arbeiten im Hörsaal und in den Lehrklassen stört das ständige Eintakten des Studenten in eine ununterbrochene Kommunikation über elektronische Gadgets. Im Verlauf der Unterrichtsstunden wird der Hochschullehrer zu einem Opfer des sogenannten Phubbings. Mit diesem Begriff wird üblicherweise das Ignorieren des Gesprächspartners durch eine andere Person angesichts eines unangemessenen Gebrauchs eines Mobiltelefons in einer sozialen Situation (also ein Verstoß gegen die Handy-Etikette).

Herausgebildet hat sich die Angewohnheit, sich parallel gleich mit mehreren Angelegenheiten zu befassen und mehrere Aufgaben gleichzeitig zu lösen. Das sogenannte Multi-Tasking findet für sich die entsprechenden Rechtfertigungen. Beispielsweise heißt es, dass sich heute jegliche Auswahl als keine ewige erweise und die eigentliche Bedeutung der Auswahl bzw. Entscheidung werde dabei in Vielem entwertet, betont Radajew.

Die Übersättigung durch unterschiedliche Kommunikationsformen provoziert eine für unsere Zeit charakteristische Zerrissenheit des Bewusstseins. Von daher – eine Verwässerung, eine Untergrabung einer stabilen Motivation des Studenten. In früheren Zeiten hatten die Studenten klar gewusst, was sie wollen. Und sie gingen hartnäckig zu den gestellten Zielen. Heute ist alles anders, obgleich man im Hochschulbereich nach wie vor die Studenten für bestimmte Berufe ausbildet. Die neuen Studenten-Generationen befinden sich in einer Situation, die eine mannigfaltige Auswahl anbietet. Und dies ist an und für sich nicht schlecht. Aber… Zu der ewigen Angst, irgendetwas nicht zu schaffen, ist nun deren Empfindung hinzugekommen, bereits nach der getroffenen Entscheidung oder Auswahl, dass sie im Leben irgendetwas Wichtigeres verpasst haben.

Zusätzlicher Druck auf die Hochschullehrer wird durch den zunehmenden Pragmatismus der Studenten erzeugt. Die Studenten sind auf den Erhalt schneller Effekte und Wirkungen, auf den Erhalt eines konkreten Ergebnisses aus. Dabei leidet natürlich der fundamentale Charakter, die Gründlichkeit der Ausbildung.

Hervorgehoben sei, dass solch ein Bild nicht nur in der Russischen Föderation für die Hochschulausbildung charakteristisch. Es bleibt nur zu verstehen, wohin dies in der Zukunft führen wird.