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Die Mobilmachung geht zu Ende, eine Demobilisierung wird es aber nicht bald geben


Die Offiziellen beginnen allmählich, die Durchführung der Teilmobilmachung einzustellen. In der vergangenen Woche hatte Präsident Wladimir Putin erstmals die voraussichtlichen Termine für die Beendigung des Prozesses angedeutet – Ende Oktober. „Diese Arbeit wird bereits abgeschlossen. Derzeit sind 222.000 von den (geplanten) 300.000 Menschen im Rahmen der Mobilmachung einberufen worden. Ich denke, dass im Verlauf von ein, zwei Wochen alle Mobilmachungsmaßnahmen abgeschlossen werden“, hatte das Staatsoberhaupt der Russischen Föderation am vergangenen Freitag in Astana gesagt. Mehrere Regionen haben nicht die gesamte vom Präsidenten eingeräumte Zeit ausgenutzt. Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin teilte am 17. Oktober mit, dass die Hauptstadt die Mobilmachungsaufgabe des Verteidigungsministeriums bereits erfüllt hätte. Danach gab der Gouverneur des Moskauer Verwaltungsgebietes, Andrej Worobjow, eine analoge Erklärung ab.

Vor ihnen hatten auch andere Oberhäupter von Regionen solche Erklärungen abgegeben. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass immer mehr regionale Spitzenvertreter beginnen werden, die Erfüllung der Vorgaben aus dem Schoigu-Ministerium zu verkünden. Einen (Schluss-) Punkt kann der Präsident mit einem Erlass über den Abschluss der Mobilmachungskampagne setzen. Der Verteidigungsminister wird dafür das Erreichen aller Ziele vermelden. Selbst wenn in dieser Etappe das reale Ergebnis tatsächlich schlechter als das geplante ausfällt. Es scheint, dass den Herrschenden schon nicht danach ist.

Das kurzfristige Ziel der Teilmobilmachung war — allem nach zu urteilen – ein Halten der Berührungslinie vor einem Zerbröckeln, nach dem die russischen Militärs aufgrund eines Mangels an Kräften gezwungen waren, das ukrainische Verwaltungsgebiet Charkow aufzugeben und danach auch einen Teil anderer Territorien. Die Ausbildung der einberufenen Reservisten erfolgt laut den vom Präsidenten dargelegten Parametern in kürzester Frist: fünf bis zehn Tage in den Truppenteilen zur Aufstellung von Einheiten, fünf bis 15 Tage in Gefechtseinheiten plus eine zusätzliche Integrierung in den Truppen, die an den Kampfhandlungen teilnehmen. Das heißt: Wenn man nur die minimalen Fristen nimmt, so sind es lediglich zehn Tage vor der Entsendung an die Front. Dies ist eine offenkundige Hast, die man mit der Notwendigkeit erklären kann, Löcher in der Verteidigung zu stopfen.

Jedoch hat sich die eigentliche Teilmobilmachung aus einer Methode zur kurzfristigen Lösung eines akuten, aber lokalen militärischen Problems in ein weitaus größeres verwandelt, in ein gesamtrussisches – in ein soziales, psychologisches, Verwaltungs-, wirtschaftliches und möglicherweise ein politisches. Dieser Tage tauchten Fotos und Videos aus mehreren Städten auf, die Situationen festgehalten hatten, die Razzien sehr ähnlich sind. Einberufungsbefehle wurden wahllos allen Männern auf Straßen, in Hauseingängen und Höfen aufgezwungen. Die Offiziellen distanzierten sich verständlicherweise von solchen Methoden. Und es kam der Eindruck auf, dass die Ineffizienz des Mobilisierungsprozesses den Höhepunkt erreicht habe, wenn ihre Organisatoren vor Ort zu solchen Formen zwecks Erfüllung der Vorgaben greifen. Oder damit die Situation zu einer gefährlichen Grenze treiben und sie sabotieren, was noch schlimmer ist.

Die Lage an den Fronten der seit dem 24. Februar laufenden militärischen Sonderoperation in der Ukraine hat sich laut Moskauer offiziellen Berichten etwas stabilisiert. Doch die „Mobilmachungskrise“ hat dagegen einen langwierigen bedrohlichen Charakter erlangt. Unter diesen Bedingungen wird eine baldige Beendigung der Mobilmachung augenscheinlich dem Verlauf der Sonderoperation nicht schaden und spürbar die sich in der Gesellschaft aufgestaute Spannung verringern. Das Thema an sich ist jedoch bei weitem noch nicht abgearbeitet.

Putin lenkt hartnäckig das Augenmerk auf die Notwendigkeit einer Arbeit an den Fehlern und einer Modernisierung des Mobilmachungssystems. Die in diesem Bereich zu beobachtende „Unbeholfenheit“ sei nach seinen Worten ein guter Anlass, um sich mit den dort angehäuften Problemen auseinanderzusetzen. Anders gesagt: Man wird das System darauf vorbereiten, damit man – wenn erforderlich – den Prozess auf einem qualitativ höheren Niveau wiederholen kann. Und obgleich der Kremlchef unterstreicht, dass in der überschaubaren Zukunft keine neuen Wellen zur Einberufung von Wehrpflichtigen geplant seien, ist es klar, dass sich die Situation ändern kann.

Das Wichtigste ist, dass Fragen bleiben, die mit der Versorgung der bereits eingezogenen Reservisten, der Einhaltung ihrer Rechte auf soziale Beihilfen und Vergünstigungen in Verbindung stehen. Und man muss sich noch auf unweigerliche Todesbescheide vorbereiten. Zumindest so lange keine Demobilisierung erfolgt, von der vorerst keiner spricht und an die keiner denkt. Allem nach zu urteilen, wird es bis zu ihr noch sehr, sehr weit sein.