Alexej Nawalnyj sei Opfer eines Angriffs unter Verwendung eines Giftstoffs geworden, erklärte der offizielle Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seifert, am Mittwoch. Seinen Worten zufolge habe ein Speziallabor der Bundeswehr eine toxikologische Untersuchung anhand von Proben vorgenommen, die bei dem Russen genommen worden waren, der sich gegenwärtig zur Behandlung in der Berliner Klinik Charité befindet. Experten ermittelten Spuren einer chemischen Substanz aus der Nowitschok-Gruppe, wobei deren Schlussfolgerungen zweifelsfrei seien, unterstrich Seibert.
Berlin rief die Offiziellen Russlands auf, sich zu diesem Vorgang zu äußern. Deutschland setzte die Partner aus der Europäischen Union und der NATO über die Ergebnisse der Analysen Nawalnyjs in Kenntnis. Und gemeinsam würden sie eine „angemessene gemeinsame Reaktion beraten“. Außerdem informierte Berlin die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW).
Der trägen Mittwoch-Reaktion im Kreml nach zu urteilen, war diese Mitteilung für die Landesführung zu einer Überraschung geworden. Und jetzt den Anschein zu wecken, dass mit Nawalnyj nichts Besonderes geschehen sei, wird in den Augen der westlichen Politiker nicht nur wenig verständlich, sondern auch so aufgefasst, dass die Spuren des möglichen Verbrechens verwischt werden sollen. Schließlich haben sowohl die Kanzlerin als auch der Bundesaußenminister nicht zufällig Moskau aufgerufen, die Personen zu ermitteln und zur Verantwortung zu ziehen, die Schuld an der Vergiftung haben. Mit der Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung traten gleichfalls Großbritanniens Premierminister Boris Johnson, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell sowie US-Außenminister Michael Pompeo auf. Über Russland schwebt real die Gefahr von Sanktionen, obwohl im Unterschied zu den Skripals, die laut westlicher Auffassung ebenfalls mit Nowitschok vergiftet worden waren, Nawalnyj ein russischer Staatsbürger ist. Und die vermutliche Vergiftung sich auf dem Territorium Russlands ereignete. Anders gesagt: Die gesamte Angelegenheit befindet sich in der russischen Jurisdiktion.
Das Hauptargument der russischen Politiker hinsichtlich der Haltlosigkeit der Behauptungen der deutschen Experten ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Nichtvorlage konkreter Angaben zur Substanz durch Deutschland, mit der die Vergiftung vorgenommen worden sei. Und bisher kann man nur mit Beweisen in der Hand von den Symptomen sprechen. Augenscheinlich ist es nicht so einfach, die konkrete Substanz vorzulegen. Und dessen Suche kann Jahre in Anspruch nehmen. Schließlich ist Nowitschok eine Gruppe von organischen Fluor-Phosphor-Giftstoffen mit einer nervenlähmenden Wirkung, von Acetylcholinesterase-Hemmern. Laut einer Erklärung des Mitglieds der russischen Delegation die der 57. und 59. Tagung des Exekutivkomitees der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, Viktor Cholstow bestehe die Familie aus mehr als 60 ähnlichen Verbindungen.
Natürlich, die Ermittlung der konkreten Substanz, mit der Nawalnyj vergiftet wurde, und allem Anschein nach muss man heute gerade von einer Vergiftung sprechen, würde erlauben, schneller die Täter zu ermitteln. Die Sache ist die, dass Russland offiziell auf seinem Territorium alle Vorräte dieses Gifts bereits im Jahr 2017 vernichtete und sich nicht mehr mit seiner Entwicklung befasste. Freilich ist bekannt, dass Versuche mit ihm in dem ehemaligen sowjetischen biologischen Labor der Militärs auf dem Territorium des heutigen Usbekistans, in Nukus, durchgeführt wurden. Und beschäftigt haben sich damit die Amerikaner. Dies betrifft den Beginn der 2000er Jahre. Danach ist das Labor geschlossen worden. Und die Bestände des Gifts sind vernichtet worden. Dies kann aber die Suche nach einem möglichen Verschwinden des Giftstoffes vorausbestimmen. Obgleich es Mitteilungen aus dem russischen Sicherheitsrat über die Möglichkeit dessen Herstellung auf amateurhafte Art und Weise gab.
Weitaus wichtiger ist jedoch zu bestimmen, wer hinter der Vergiftung Nawalnyjs steht, wenn man von der deutschen Version des Geschehens ausgeht. In dem deutschen Internet-Magazin „Internationale Politik und Gesellschaft“ ist ein Nachdruck eines Beitrags von Tatjana Stanowaja aus dem Moskauer Carnegie-Zentrum unter der Überschrift „Moskaus (un)heimliche Helfer“ veröffentlicht worden. Sein Wesen wird direkt in der Unterzeile aufgedeckt – „In Russland buhlen verschiedene Clans darum, das Regime zu stabilisieren und zu beschützen. Alexej Nawalny dürfte ihr jüngstes Opfer sein“. Die Sache ist die, dass für den Kreml – so die Autorin – Nawalnyj keine unmittelbare Gefahr darstelle. Daher wird die Version angezweifelt, dass Wladimir Putin persönlich angewiesen habe, „das Problem Nawalnyj zu lösen“. Im Kreml halte man Nawalnyj „nicht für einen Politiker, sondern Abenteurer, der um die Macht mittels Zerstörung und Destabilisierung kämpft“.
Dem kann man zustimmen, da der Oppositionspolitiker weder zur Kategorie der Verräter im Unterschied zu Litwinenko, Skripal oder Rodtschenkow, noch zu der der Feinde gehört. Und laut Angaben einiger Blogger und Internet-Medien hätten interessierte Personen in den Machtstrukturen sogar extra Nawalnyj Informationen über Korruptionsschemas ihrer innenpolitischen Gegner zugespielt. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, daran zu erinnern, dass mehrere Projekte Nawalnyjs der unversöhnliche Kämpfer gegen den Kreml, Michail Chodorkowskij, sogar als „indirekte Hilfe für den FSB“ bezeichnete. Auf jeden Fall hatte darüber seinerzeit die Nachrichtenagentur www.ura.ru geschrieben.
Für den Kreml ist die Aktivität Nawalnyjs mit zwei potenziellen Risiken verbunden – mit einer Heroisierung des Oppositionspolitikers, wenn die Aktionen der Offiziellen gegen ihn wie eine offenkundige Ungerechtigkeit aussehen werden, und mit der Wahl des Politikers als ein sakrales Opfer zwecks Stabilisierung der Situation. Letzterer Aspekt erweckt Beachtung durch die Auswahl der Zeit für den Zwischenfall vor dem Hintergrund der nicht aufhörenden Proteste in Weißrussland, die unter bestimmten Bedingungen durchaus auf Russland übergreifen könnten.
„Nawalny ist und bleibt der prominenteste Oppositionelle, der außerhalb des russischen Systems steht.“ Er genieße jedoch keine besondere Popularität in Russland, ungeachtet dessen, dass die westlichen Medien versuchen, aus ihn einen Oppositionsführer zu montieren. Stanowaja zitiert folgende Angaben über ihn: „Das Vertrauensrating in Bezug auf Nwalnyj schwankt im Bereich von zwei bis vier Prozent. Und positiv stehen seiner Tätigkeit nur neun Prozent der Befragten gegenüber, negativ – 25 Prozent. Überdies spielen gegen ihn seine gut bekannten Mängel – das Autokratische und die Intoleranz gegenüber den Gegnern“. Aber die Tatsache nicht anzuerkennen, dass Nawalnyj in seinen Untersuchungen den empfindlichsten Nerv der innenpolitischen Situation in Russland berührt – die Korruption, dies ist nicht möglich.
Von daher kann man drei Versionen für das Geschehene annehmen. Die erste ist: Nawalnyj wurde zu einem Opfer seiner zahlreichen Gegner, die sich nach seinen Korruptionsuntersuchungen gefunden haben. Diese Variante erscheint umso mehr eine reale zu sein, da der Anschlag im Vorfeld der September-Regionalwahlen erfolgte, bei denen Nawalnyj offensichtlich einheimischen Beamten viel vermasselte.
Die zweite Version formulierte Stanowaja, wobei sie auf das Entstehen machtnaher Strukturen verweist, die der Auffassung sind, dass das Regime schon nicht mehr in der Lage sei, selbständig mit den Gefahren und Risiken fertig zu werden. Die Ermordung Nemzows, meint sie, „war durch diejenigen organisiert worden, die meinte, dass der FSB nicht seine Arbeit mache. Nawalnyj könnte durch diejenigen vergiftet worden sein, die es für nötig erachteten, sich einzumischen, wenn die (Macht-) Vertikale untätig ist“.
Und natürlich darf man nicht die Version vom sakralen Opfer ausschließen.
Auf jeden Fall muss sich der Kreml gerade jetzt mit einer allseitigen Untersuchung der Vergiftung von Nawalnyj befassen. Dies ist im Interesse Putins.