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Die Sonderoperation und Mobilmachung verstärken in Russland einen Personalmangel


Die großangelegte Einberufung in die russische Armee hat den Arbeitsmarkt im Land wesentlich verändert. Ein Teil der Unternehmen hat bereits mehr als zehn Prozent seiner Arbeitnehmer verloren. Dabei annullieren viele Unternehmen ihre Stellenausschreibungen aufgrund der Perspektiven einer Reduzierung der Nachfrage und der Zunahme der Unbestimmtheit. Experten erwarten in einigen Sektoren eine Zunahme des Personalmangels. Aber ebenfalls einen Wechsel von Arbeitnehmern zu Unternehmen, für die Ausnahmen in Bezug auf die Einberufung von Reservisten gelten, darunter auch in den Komplex der russischen Rüstungsindustrie.

Der Appell des Präsidenten-Business-Ombudsmannes Boris Titow, die durch die Mobilmachung verursachten Verluste der Unternehmen von zehn Prozent der Belegschaft belegt, dass es Produktionsstätten gibt, die weitaus mehr als ein Zehntel ihres Personals verloren haben. Vergleichbar mit der Auswirkung der Teilmobilmachung ist auch die Flucht potenzieller Beschäftigter ins Ausland aufgrund der Gefahr einer Einberufung.

Ein vollwertiges Arbeiten erwies sich für viele Betriebe angesichts solcher Kader-Verluste als schwierig.

Zusätzliche Unbestimmtheit verursacht das normative Durcheinander mit den Einberufungskriterien, der Freistellung und der Möglichkeit einer Bewahrung der Arbeitsplätze der einberufenen Reservisten. Die Offiziellen haben nach wie vor keine Durchführungsbestimmungen vorbereitet, die unter anderem die Arbeitstätigkeit einberufener Reservisten oder den Erhalt von Unternehmen im Falle einer Einberufung ihrer Inhaber regeln. Beispielsweise wird man in der Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) erst am 18. Oktober beginnen, einen Gesetzentwurf über das Recht einberufener Unternehmer, ihr Business an bevollmächtigte Personen in eine Treuhandverwaltung zu übergeben, zu behandeln. Dabei konnte man sich im Föderationsrat (das Oberhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) nicht einmal darüber einigen, welche Zeiträume man für eine Übergabe des Business als akzeptable ansehen könne.

Bemerkenswert ist, dass, ungeachtet der Kader-Verluste der Unternehmen die Gesamtzahl der ausgeschriebenen Arbeitsstellen bisher nicht zunimmt. Laut Angaben des Internetportals Superjob sei keine Zunahme der Anzahl offener Stellen im Land zu beobachten. Der Arbeitsmarkt verhalte sich insgesamt heute recht passiv, berichtete Superjob-Präsident Alexej Sacharow. „Wir sehen weder einen wesentlichen Rückgang der Anzahl offener Stellen noch deren Zunahme. Die einzige wesentliche Nachfrage (mit einer Zunahme um das 2- bis 3fache) wurde bei Spezialisten im Bereich der Informationssicherheit festgestellt“, erläutert er.

Solch eine Dynamik der offenen Stellen erläutert der Experte damit, dass selbst die Bürger, die das Territorium der Russischen Föderation verlassen haben, weiterhin für russische Unternehmen tätig seien. „Zum Beispiel haben es die IT-Spezialisten vorgezogen, nicht den Arbeitgeber zu wechseln, und arbeiten nach wie vor für den bisherigen im Online-Regime. So ist man in vielen Branchen vorgegangen“, sagt Sacharow. „In Krisenzeiten wechseln die Menschen äußerst ungern den Arbeitsplatz. Dementsprechend ist jetzt weitaus mehr Zeit erforderlich, um einen Fachmann zu finden“, fährt er fort.

Eine nominelle Zunahme der Löhne und Gehälter ist in vielen Unternehmen festgestellt worden. In realen Zahlen aber – das heißt unter Berücksichtigung der Inflation – hätten die Löhne und Gehälter nur im IT-Sektor zugenommen, meinen die Experten von Superjob.

„Insgesamt sind die Verluste für die großen Unternehmen aufgrund einer Mobilmachung von Mitarbeitern bisher nicht mit den Folgen zum Beispiel von COVID-19 vergleichbar, als ganze Branchen nicht gearbeitet hatten. Jetzt bemühen sich die Unternehmen auf maximale Weise, das Person zu bewahren und zu halten“, weist man auf dem Internetportal Superjob hin.

In der Recruiting-Firma „HeadHunter“ betont man, dass im Land die Zahl der Angebote für Arbeitsplätze mit einem Zeitaufschub für eine Einberufung zunehme. Viele Bürger Russlands seien bereit, sich für solche neuen Arbeitsplätze selbst mit einer Verringerung der Löhne bzw. Gehälter zu entscheiden. „Mit Stand vom 10. Oktober waren im System von HeadHunter 2150 offene Arbeitsstellen mit Hinweis auf eine Freistellung oder einen zeitweiligen Aufschub für eine Einberufung ausgeschrieben gewesen. In der ersten Woche der Durchführung der Teil-Mobilmachung lag die Anzahl der Aufrufe für solche Stellenausschreibungen im Durchschnitt bei 18.000 am Tag. Und die Anzahl der Reaktionen – bei 2.000 am Tag. In der dritten Woche erreichten die Tageszahlen 30.000 Aufrufe und 3.300 Reaktionen“, berichtete man in der Recruiting-Firma.

Unter den Spitzenreitern hinsichtlich der Anzahl von Arbeitsstellen mit einer Freistellung von der Mobilmachung sind IT-Unternehmen, Unternehmen im Dienstleistungsbereich, aber auch die Metallurgie, die Unternehmen zur Herstellung von Produktionsanlagen u. a. Von der Theorie her wird zum heutigen Tag nur den Mitarbeitern des Sektors der Rüstungsindustrie, aber auch Mitarbeitern des Fernmeldewesens, von Massenmedien und Banken eine Freistellung eingeräumt.

Außerdem nehmen die Nachfrage und die Anzahl der Stellenausschreibungen mit einem Online-Arbeitsregime zu. Der Service „Rabota.ru“ berichtet, dass die Anzahl solcher Angebote um 89 Prozent im Vergleich zu den ersten Septembertagen zugenommen hätte. Diesem Trend pflichten auch die Experten des Internetportals Superjob bei. Dort fixiert man ebenfalls eine Zunahme der Anzahl von Arbeitsplätzen mit einem Online-Arbeitsregime seit September. Im Endergebnis gab es zum Monatsende in jedem fünften russischen Unternehmen Mitarbeiter, die im Home-Office-Regime arbeiteten. In der Recruiting-Firma „HeadHunter“ betont man, dass, während am 21. September auf 46.000 Stellenausschreibungen mit einer Beschäftigung im Online-Regime über 226.000 Reaktionen kamen, so zum 10. Oktober dieser Wert um mehr als ein Viertel angestiegen war – bis auf 47.500 Stellenausschreibungen und 309.600 Bewerber. Wobei unterstrichen wird, dass eine Online-Beschäftigung bei beiden Geschlechtern gefragt sei.

Eine wesentliche Zunahme der Zahl von Arbeitsstellen mit der Möglichkeit eines Arbeitens aus dem Ausland begann sich erst in der dritten Woche der Teil-Mobilmachung abzuzeichnen. „Die Anzahl solcher Stellenausschreibungen ist bis auf 1650 angestiegen (ein Plus von 58 Prozent gegenüber der Woche vor der Bekanntgabe der Mobilmachung). In Moskau ist die Anzahl solcher offenen Stellen bis auf 356 angestiegen (ein Plus von 40 Prozent zur Woche vom 12. bis einschließlich 18. September), in Sankt Petersburg – bis auf 180 (+ 44 Prozent), in den übrigen Regionen der Russischen Föderation – bis auf 900 (+ 55 Prozent)“, teilte Natalia Danina, Chefexpertin bei „HeadHunter“, mit. Jede dritte Stellenausschreibung mit der Möglichkeit eines Arbeitens aus dem Ausland war und bleibt für IT-Spezialisten.

Insgesamt aber habe der russische Arbeitsmarkt bisher schwach auf die Mobilmachung reagiert. Entsprechend den Ergebnissen der dritten Woche der Teil-Mobilmachung (vom 3. bis einschließlich 9. Oktober) sei die Anzahl der aktiven ausgeschriebenen Stellen insgesamt nur um ein Prozent zurückgegangen. Und die Anzahl der aktiven Bewerbungsschreiben sei um 0,3 Prozent im Vergleich zur Woche der Bekanntgabe der Mobilmachung angestiegen, fährt der Expertin fort. Sie teilte mit, dass die Anzahl der aktiven offenen Stellen in dieser Zeit in sechs Bereichen angestiegen sei: Hauspersonal (+ 21 Prozent zur Woche vom 12. bis einschließlich 18. September), Hotels, Restaurants und Cafés (+ 14 Prozent), Wissenschaft und Bildung (+ 7 Prozent), Arbeitspersonal (+ 5 Prozent), Karrierebeginn, Studenten (+ 3 Prozent) und Bauwesen (+ 2 Prozent). Dabei nimmt die Zahl der aktiven Bewerbungen von Beschäftigten des Sport- bzw. Fitness-Bereichs, von Marketing-Experten und IT-Spezialisten zu.

Dabei sind sich die Experten gewiss: Die neuen Realitäten werden ihre Korrekturen auf dem Arbeitsmarkt bewirken. „In der nächsten Zeit werden wir eine Zunahme der Zahl von Stellenausschreibungen erwarten können, die eine zeitlich befristete Beschäftigung, Arbeiten im Online-Regime und eine Einstellung entsprechend befristeten Arbeitsverträgen anbieten. Die Arbeitgeber werden Menschen für einen Ersatz derjenigen brauchen, die zum Militärdienst entsprechend der Mobilmachung einberufen worden sind. Und natürlich können die Arbeitgeber vor dem Hintergrund einer Verstärkung des Mangels an Kadern gegenüber den Bewerbern ohne Arbeitserfahrungen loyaler werden, aber auch gegenüber Menschen der höheren Alterskategorie“, urteilt Danina. Die Arbeitgeber könnten für eine operative Besetzung offener Steller und die Entwicklung des Business beginnen, den Grad der Anforderungen für eine Reihe von Berufen zu senken. „Möglich ist, dass die Unternehmen aus den Bereichen, wo die Anzahl der männlichen Bewerber dominiert, den Fokus bei der Einstellung auf Bewerberinnen verlagern können. Dies wird aber ganz bestimmt nicht auf einen Schlag erfolgen“, sagte sie.

Dabei betont man in der Firma „HeadHunter“ eine spürbare Zunahme der Anzahl offener Stellen in allen traditionell „männlichen“ Berufen in der Zeitspanne ab dem 21. September bis einschließlich 11. Oktober 2022 im Vergleich zum analogen Zeitraum des vergangenen Jahres. So ist die Zahl der offenen Stellen für Arbeitspersonal um das 2,3fache angestiegen, im Bauwesen um das 3fache, im Sektor „Transportwesen und Logistik“ um mehr als das 2fache, in den Bereichen Sicherheit und IT um das 2fache und im Bereich der Rohstoffförderung fast um das 3fache, folgt aus Angaben des Unternehmens.

Die Mobilmachung wirke aber in mehreren Richtungen auf den russischen Arbeitsmarkt, meinen Experten. „Die erste ist eine Verringerung der Anzahl von Arbeitskräften, wobei in erster Linie von Menschen im jungen Alter. Die zweite ist eine weitere Entwicklung des Online-Formats für eine Beschäftigung mit den Arbeitnehmern, die zeitweilig das Territorium der Russischen Föderation verlassen haben. Die dritte sind die Arbeitnehmer, die zwecks Erhalts einer Freistellung in die Bereiche wechseln werden, die mit dem Militär-Industrie-Komplex verbunden sind“, zählt Prof. Alexander Safonow von der Finanzuniversität in Moskau auf. Letztere werden nach seinen Worten lokale Mängel von Arbeitskräften verursachen. „Entweder werden die Arbeitnehmer ins System des Militär-Industrie-Komplexes übergeben, womit sie die Unternehmen mit einer zivilen Spezialisierung in die Bredouille bringen, oder sie gehen in die angrenzenden Länder“, erzählt er.

Schon in der nächsten Zeit werden wir eine Situation zu sehen bekommen, die analog der zu Beginn der 2000er Jahre ist, als die Unternehmen des Militär-Industrie-Komplexes gezwungen waren, Bedingungen für eine Rückkehr von Spezialisten und Arbeitnehmern im Rentenalter zu schaffen.

Außerdem sei unklar, fährt der Ombudsmann für Fragen der Einhaltung der Rechte von Unternehmern, Dmitrij Porotschkin fort, wann die einberufenen Mitarbeiter zurückkehren. „Und schließlich beginnt nach ein, zwei Monaten bzw. nach einem halben Jahr ihr professionelles Niveau abzufallen. Solch eine Situation kann sich negativ auf alle Bereiche der Wirtschaft – mit Ausnahme der von der Regierung geschützten – auswirken“, meint er.

Die Inhomogenität des Arbeitsmarktes ist schon jetzt zu sehen. „So bildet sich in der Kategorie der „White Collar“ (Büroangestellte, Manager etc.) ein Arbeitgeber-Markt. Die Anzahl der Jobs ist geringer geworden, die Einstellungen erfolgen länger, und es gibt mehr Bewerber. Die Konkurrenz um die Jobs bleibt eine große. Popularität gewinnt das Modell eines Mietens von Arbeitskräften. Bis zum Jahresende wird sich die Situation wohl kaum ändern“, meint Sergej Suchostawez, Operationsdirektor der Plattform „Rocket Work“.

Für die „Blue Collar“ (in einem Produktionsbetrieb beschäftigte Industriearbeiter und Handwerker – Anmerkung der Redaktion) ist die Situation eine entgegengesetzte. „Die Anzahl der offenen Stellen ist um ein Vielfaches größer als die Anzahl der Bewerber. Es ergeben sich Anzeichen für einen Mangel. Besonders groß ist die Nachfrage nach solchen Jobs – Lager- und Ladearbeiter, Kuriere, Fahrer, Promoter und Verkäufer. Da werden die Arbeitgeber mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer Verbesserung der Arbeits- und Vergütungsbedingungen darauf reagieren. Und unter Berücksichtigung der demografischen Faktoren und des Weggangs von Migranten wird dieser Trend auch im nächsten Jahr anhalten“, betont der Experte. Die Mobilmachung werde den Hunger nach Personal verstärken, fährt Felix Kugel, geschäftsführender Direktor des Recruiting-Unternehmens „Unity“, fort. „Laut einigen Schätzungen wird die Verringerung der Anzahl von Männern auf dem russischen Arbeitsmarkt eine Erhöhung der Nachfrage nach Bewerberinnen und Spezialisten über 50 fördern können. Jedoch wird es nicht überall gelingen, die „Männer“-Positionen mit Frauen zu besetzen. Im IT-Bereich sind die Entwicklerinnen auch in der Minderheit. Und es wird nicht gelingen, innerhalb kürzester Frist ein Gleichgewicht zu erreichen. Spezialisten über 50 können mehr Jobangebote im Bereich der Dienstleistungen und des Handels erhalten. Sie werden für sich aber wohl kaum Stellen in Erwägung ziehen, die mit großen physischen Belastungen verbunden sind“, meint er.

„Die Mobilmachung verstärkt die Spannungen auf dem Markt und führt zu einem noch größeren Personalmangel. Am stärksten können solche Branchen wie das Bauwesen und die Industrie leiden. Wobei in der Industrie der Personalmangel bereits im Verlauf der letzten Jahre fixiert wurde, besonders in den Regionen, wohin es schwierig war, Kandidaten zu einem Umzug zu überreden“, sagt Jekaterina Kotowa, leitende Konsultantin aus der Recruiting-Firma „Get Experts“. Dabei schließt sie nicht aus, dass im Weiteren einige Arbeitgeber mit Vorsicht Männer im Einberufungsalter einstellen werden.