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Die Tretjakow-Galerie hat man einer Spezialistin für vergleichende Politologie anvertraut


Es ist bekannt geworden, dass die Generaldirektorin der Moskauer Tretjakow-Galerie, Selfira Tregulowa, ihr Amt im Zusammenhang mit dem Auslaufen der Geltungsdauer des Arbeitsvertrages (am 8. Februar 2023) verlässt. Wie man im von Olga Ljubimowa geleiteten russischen Kulturministerium mitteilte, werde Tregulowas Amt Jelena Pronitschewa, die bisherige Generaldirektorin des Moskauer Polytechnischen Museums, Absolventin der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO im Fach „vergleichende Politologie“ und Tochter des ehemaligen Vizechefs des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Wladimir Pronitschew, übernehmen. Dass die Kontrolle in Bezug auf die Tretjakow-Galerie immer aufmerksamer werde und dass man am Stuhl ihrer Direktorin Selfira Tregulawa „säge“, hatte man schon lange gewusst. Der Entlassung der 67jährigen Kunstwissenschaftlerin waren unterschiedliche Fälle vorausgegangen, um sie unter Druck zu setzen. Zum letzten von ihm wurde die Erklärung eines gewissen Galerie-Besuchers namens Sergej Schadrin, der daran Zweifel bekundete, dass eine Ausstellung mit dem Zyklus von Natalia Nesterowa „Das Heilige Abendmahl“ aus dem Jahre 2005 der staatlichen Politik „zur Bewahrung und Festigung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte entspreche.

Nach dieser mehr als merkwürdigen Beschwerde forderte das Kulturministerium von Selfira Tregulowa, eine Erklärung dazu zu verfassen. Und laut Medienberichten war der 6. Februar als letzter Termin dafür ausgewiesen worden. Danach endete auch der Vertrag der Chefin der Tretjakow-Galerie. Die Nichtverlängerung des Vertrages (der laut Moskauer Zeitungsberichten vom Freitag anfangs verlängert und dann plötzlich doch für beendet erklärt wurde – Anmerkung der Redaktion) begleitete das Kulturministerium mit einer formalen Erklärung, wonach unter Tregulowa „eine Vielzahl großangelegter Ausstellungs-, Bildungs-, aufklärerische und wissenschaftlicher Projekte organisiert worden waren“.

Derweil erfolgte der Besucherboom für die russischen Museen im letzten Jahrzehnt in Vielem gerade dank der Tretjakow-Galerie. Und es geht dabei nicht nur um das Streben des Staates, die Besucherzahlen der Museen bei sehr bescheidenen Haushalten zu erhöhen. (Alle Ausstellungsblockbuster stemmen die russischen Museen seit langem mit Sponsorenmitteln.) Selfira Tregulowa, eine Kunsthistorikerin, die die Moskauer staatliche Lomonossow-Universität beendete, arbeitete im Puschkin-Museum, in den Museen des Kremls, leitete das Staatliche Museums- und Ausstellungszentrum ROSIZO und wechselte von dort im Jahr 2015 in den Direktorensessel der Tretjakow-Galerie. Sie verband die Qualitäten einer Spezialistin und effektiven Managerin (was auch deutsche Berufskollegen bestätigen können, die mit ihr zahlreiche erfolgreiche Projekte organisiert hatten – Anmerkung der Redaktion).

Dabei war sie eine diplomatische Leiterin, die selbst nie auf Konflikte erpicht war und eine akkurate Politik verfolgte. Diese Politik war gerade auf das Museum und die Kunst ausgerichtet. Nicht jeder weiß darum, wie das eine und das andere funktionieren. Aber hinsichtlich der Verbindung dieser Fähig- und Fertigkeiten gibt es in Russland weniger Menschen solch eines Niveaus wie Tregulowa. Sie hatte begriffen, dass die Zeit Verbindungen von beinahe Unvereinbarem verlangt, und sie fand in den Museumsplänen Platz sowohl für Blockbuster (die Ilja-Repin-Retrospektive haben über 600.000 Menschen gesehen) als auch für Forschungsprojekte über wenig bekannte Erscheinungen, die durch die Anstrengungen der Kuratoren und einer ausgezeichneten musealen Aufarbeitung und Demonstration zu Ereignissen wurden (das Projekt über das Museum für die Kultur der Malerei), sowohl für schwer zu verbindende, die zu einer künstlerischen Erscheinung im weiten Kontext der Zeit wurden, als auch für Kuratoren-Projekte (die deutsch-russischen „Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland“ wurden zu einer der besten Ausstellungen der letzten Jahre in diesem Land). Dabei blieb Platz für vergessene Namen: Der im kleinen Saal Nr. 38 für Sonderprojekte gezeigte Künstler Boris Golopolossow, obgleich einzelne seiner Arbeiten bekannt und ausgestellt worden waren, wurde faktisch aufs Neue entdeckt. Gegeben hatte es auch „zufällige“ Ausstellungen, jene, die eben jener Zeitgeist forderte. Sie wurden aber zum Background für große Ereignisse, die unter einem anderen Leiter geschehen konnten. Oder auch nicht.

Unter Tregulowa startete man das Programm über Gaben zeitgenössischer Kunst, für deren Erwerb den Museen das Geld mangelt. Und es funktionierte mehrere Jahre lang recht erfolgreich. Wobei diese Sachen nicht in den Lagerbeständen verschwanden, sondern ausgestellt wurden. Zu ihren Zeiten setzte in der Reihe der kleinen Museen der Staatlichen Tretjakow-Galerie eine Aktualisierung ein. Vor einem Jahr eröffnete man das von Grund völlig neu geschaffene Museum über die Tretjakow-Brüder, es laufen Arbeiten an der Kadaschewskaja-Uferstraße (im Herzen Moskaus). Man bereitete sich vor, das Gebäude der Neuen Tretjakow-Galerie an der hauptstädtischen Krim-Brücke zu erneuern. Und in Samara bereitet man eine Filiale der Tretjakow-Galerie zur Eröffnung vor. Unter Tregulowa startete die Galerie Bildungsprojekte, darunter im Internet. Sie popularisieren die einheimische Kunst auch unter jenen, für die physisch ein Museumsbesuch aufgrund unterschiedlicher Ursachen unmöglich ist. Freilich, in ihrer Amtszeit beschädigte ein Vandale das empfindliche Ilja-Repin-Gemälde „Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan am 16. November 1581“ (zeigt Iwan IV., der seinen sterbenden Sohn in den Armen hält, nachdem er ihm im Streit selbst eine tödliche Verletzung an der Schläfe zugefügt hat – Anmerkung der Redaktion). Und es stellte sich die Frage nach kostspieligen Anlagen, einer Restaurierung sowie der Rechte und der Bewachung der Museen. All dies verlangt aber Gelder. Als eine effektive Managerin hatte sie Tregulowa gefunden. Die Tretjakow-Galerie rückte nicht nur in die Top-Museen dank der Qualität der Kollektion auf. Das Museum wurde zu einem modernen, zu einem modischen Ort, in dem man trotz eines Anziehens aller Daumenschrauben versuchte, auch über Ideen und Gedanken zu sprechen. Tregulowa achtete man sehr unter den Berufskollegen. In ihr Museum gab man Arbeiten, man vertraute ihr.

In der letzten Zeit ereigneten sich aber um Tregulowa Ereignisse, die als Attacken auf sie wahrgenommen wurden. Vor einem Jahr hatte man plötzlich die Ausstellung „Dekorationswechsel“ des Künstlers Grischa Bruskin geschlossen, obgleich er im Jahr 2017 Russland noch bei der 57. Biennale von Venedig repräsentiert hatte. Irgendwer hatte etwas in dem Projekt ausgemacht, das mit Verweisen auf unterschiedliche Kultur-Codes der Vergangenheit gespickt war, aber nicht einen Namen aus der Gegenwart genannt hatte. Im vergangenen Sommer war Rubljows Dreifaltigkeitsikone an das Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad zeitweilig überlassen worden, obgleich solche „Reisen“ der Ikone aus kunsthistorischer und musealer Sicht verboten sind. Und Tregulowa hatte dementsprechend diese Entscheidung nicht unterschrieben, was ihr Stellvertreter Rinat Schagipow aber getan hatte. Den Posten des Generaldirektors der Tretjakow-Galerie konnte er damit jedoch nicht verdienen, muss sich also mit der Bewahrung seines jetzigen Amtes weiterhin begnügen. Ende letzten Jahres kam es noch zu einem Skandal im Zusammenhang mit der Biennale für zeitgenössische Kunst, die aufgrund angeblicher Verstöße und Nichtübereinstimmungen mit den Zielen im Vorfeld der Eröffnung abgesagt wurde. Die Tretjakow-Galerie hatte dabei nur Ausstellungsflächen bereitgestellt und nicht das Projekt an sich vorbereitet. Jeder, der sich nach dem Skandal für dieses interessierte, konnte sich davon überzeugen, dass die letztlich online eröffnete Schau absolut keinem Biennale-Niveau entsprach, sogar der Name des Kurators blieb ein Geheimnis. Waren dies alles aber Alarmsignale, Provokationen? Möglicherweise. Vor dem Hintergrund der Entlassungen, Absetzung von Inszenierungen sowie Entfernung von Namen im Kulturbereich ist dies sozusagen ein weiterer Beleg für den deutlich gewordenen Trend. Der Dialogcharakter ist gecancelt worden.

Die Tregulowa ablösende Generalstochter Pronitschewa studierte im MGIMO vergleichende Politologie, arbeitete im Duma-Ausschuss für Haushalts- und Steuerfragen, bei „Gazprom“, auf der Moskauer WDNCh. Im Jahr 2013 wurde sie zur Exekutivdirektorin des Jüdischen Museums und wechselte sieben Jahre später ins Polytechnische Museum. Dieses hauptstädtische Museum befindet sich derzeit im Stadium einer scheinbar ewig langen Rekonstruktion, die nun ohne die 39jährige beendet werden soll. Ihre Schwester Jekaterina Pronitschewa arbeitete ebenfalls auf der WDNCh, genauer gesagt: Sie leitete einige Zeit lang dieses riesige Ausstellungszentrum. Und später war sie Chefin des Moskauer Komitees für Tourismus. Ihr Vater – Wladimir Pronitschew – ein General, Held Russlands (leitete den operativen Stab während des Terroraktes im Moskauer Theaterzentrum an der Dubrowka-Straße im Oktober 2002) – leitete bis 2013 den Grenzdienst des FSB. Zum amtierenden Generaldirektor des Polytechnischen Museums wurde Konstantin Fursow, bisher stellvertretender Direktor des Museums für Wissenschaft und Bildung, ernannt.

Eben jenes Canceln des Dialogcharakters, die Entlassungen und Verbote, die bisher in den Theatern Russlands zu beobachten ist, mussten letztlich auch die Museen tangieren. In den Medien diskutiert man bereits die wahrscheinliche Ablösung des Direktors des Russischen Museums in Petersburg, Wladimir Gusjew, und die wahrscheinliche Übernahme seines Amtes durch die stellvertretende Kulturministerin Alla Manilowa. Während unter den unterschiedlichen politischen Bedingungen die Kultur sowohl eine Brücke als auch eine Form zum Denken geblieben war, so ist es jetzt, selbst wenn jetzt die Meinung einer Gruppe von Staatsbeamten eine falsche ist, schädlich zu denken.

Post Scriptum:

Bereits nach Redaktionsschluss für den vorliegenden Beitrag wurde bekannt, dass Wladimir Gusjew, der über 30 Jahre Direktor des Russischen Museums war, zu dessen Präsident wird. Sein Arbeitsvertrag endet, und für den jetzt 77jährigen Kunstwissenschaftler eröffnet sich die Möglichkeit, sich auf die Koordinierung der Restaurierungsarbeiten an Objekten des Museums und auf die Entwicklung eines Netzes von Filialen zu konzentrieren. Seine Stellvertreterin Anna Zwetkowa wird vorerst die Leitung der weltberühmten Kultureinrichtung übernehmen. Ob aber Alla Manilowa an die Newa kommen wird, wurde am Freitagabend nicht gemeldet.