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Die Ukraine hat ihre Möglichkeiten für eine Mobilisierung nicht ausgeschöpft


Russland stockt die Personalstärke der Truppen auf, die bei der militärischen Sonderoperation in der Ukraine agieren. Eine signifikante Auffüllung erfolgt durch die Kontingente, die aus dem Süden der Russischen Föderation eintreffen. Mit der Vorbereitung von Reserven sei auch die Ukraine beschäftigt, und, wie Experten meinen, habe Kiew unter Berücksichtigung der Waffenlieferungen aus dem Westen ein großes Potenzial für eine Mobilmachung.

Das Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, hat die Entsendung einer neuen Partie von Kämpfern in die Ukraine bekanntgegeben. Die Personalstärke ist nicht genannt worden. Jedoch hatte Kadyrow früher erklärt, dass 9.000 Kämpfer bereit seien, loszuziehen. 10.000 würden sich in der Reserve befinden. Mit solch einer Zusammensetzung kann man ein Armeekorps auffüllen. Einheiten formiert man auch in anderen Regionen Russlands. Unter Berücksichtigung der Anzahl der Föderationssubjekte kann man die Schlussfolgerung ziehen: Es gibt genug Reserven für die Aufstellung neuer Verbände und die Realisierung der Aufgaben der am 24. Februar begonnenen militärischen Sonderoperation.

Reserven versucht man auch in der Ukraine zu mobilisieren. Präsident Wladimir Selenskij hatte an die Werchowna Rada Gesetzentwürfe über die Veränderung des Kriegszustands und eine allgemeine Mobilmachung um weitere 90 Tage ab dem 23. August überwiesen. (Und am 15. August beschloss das Landesparlament, diesen Kriegszustand bis zum 23. November zu verlängern. – Anmerkung der Redaktion) Bis zum Beginn der Kampfhandlungen machte die planmäßige Mannschaftsstärke der Streitkräfte der Ukraine 255.000 Militärs aus. Entsprechend der Kriegszeit müsse laut Expertenschätzungen die Personalstärke der ukrainischen Streitkräfte rund 700.000 Mann ausmachen. Gehören zu diesen die Kräfte der Territorialverteidigung? Wahrscheinlich nicht. Bis zum Beginn der Sonderoperation hatte Kiew geplant, die Mannschaftsstärke der Territorialverteidigung bis auf eine Million Menschen zu erhöhen. Jedoch gibt es auch jetzt keine solche Anzahl von Kämpfern in den Reihen der Territorialverteidigung. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass in jedem Verwaltungsgebiet der Ukraine mindestens eine Brigade der Territorialverteidigung in einer Stärke von ca. 3.000 Mann handelt. Dabei demonstrieren viele in den Regionen aufgestellte Verbände und Bataillone der Territorialverteidigung eine relativ hohe Kampfkraft. Und die Führung der ukrainischen Streitkräfte setzt sie bereits seit einigen Monaten bei Kampfhandlungen gleichwertig zu den regulären Truppen ein.

Der Präsidentenerlass über die Fortsetzung der generellen Mobilmachung in der Ukraine belegt, dass die reale Personalstärke der Streitkräfte der Ukraine erheblich geringer als die Sollstärke ist. Und der Prozess der Gewinnung von Militärs für die Armee muss fortgesetzt werden. Russlands Verteidigungsministerium veröffentlicht regelmäßig Angaben über angeblich große Verluste der ukrainischen Truppen, die bisher keine offizielle Bestätigung aus anderen Quellen gefunden haben. Und auch ohne diese phantastischen Verluste-Zahlen, die der Sprecher des russischen Verteidigungsministers Igor Konaschenkow mehrfach vermeldete, sind für ein Wettmachen ein gut organisiertes Mobilmachungssystem und neue Kontingente von Wehrpflichtigen notwendig.

„Nach meinen Berechnungen beläuft sich die Gesamtzahl der Verluste (der sanitären und unwiederbringlichen), die die ukrainischen Truppen im Verlauf der Gefechte erlitten haben, auf über 100.000 Militärs. Dabei sind rund 40 Prozent davon unwiederbringliche Verluste“, behauptete der Militärexperte und Generalleutnant im Ruhestand Jurij Netkatschjow gegenüber der „NG“. „Ich würde mich aber der Behauptungen enthalten, dass die ukrainischen Streitkräfte dadurch erheblich ihre Kampfkraft verloren haben, wie dies einige russische Experten darstellen möchten“. Der Experte betonte, dass entsprechend den Erfahrungen des Großen Vaterländischen Krieges die Einheiten die Kampfkraft verloren hatten, wenn die Gesamtzahl der Verluste in ihnen mehr als 50 Prozent ausmachte. „Wenn angenommen wird, dass derzeit die Personalstärke der ukrainischen Streitkräfte rund 700.000 Mann ausmacht, so haben ihre Gesamtverluste rund 15 Prozent ausgemacht. Dies ist nicht kritisch und zeugt von der Fähigkeit der meisten Verbände der Streitkräfte der Ukraine, hartnäckig zu kämpfen (zumal die Motivation darauf beruht, dass man gegen Russland als einen Aggressor-Staat kämpfe und das Land ein Recht auf Selbstverteidigung habe – Anmerkung der Redaktion). Was sie derzeit auch im Donbass und im Süden der Ukraine demonstrieren, wobei sie erbittert das Vorrücken der russischen Truppen behindern“, betonte Netkatschjow.

Mit der Mobilmachung gibt es aber in der Ukraine scheinbar Probleme. Angaben aus den sozialen Netzwerken, Videos, die festhalten, wie sich Einheiten der ukrainischen Streitkräfte weigern würden, Aufgaben zu erfüllen, sowie andere Informationen belegen, dass die Bevölkerung der Ukraine aufgrund der Kampfhandlungen sehr müde geworden ist. Und ihr männlicher Teil versucht oft mit allen Wahrheiten und Unwahrheiten, der Aushändigung eines Einberufungsbefehls zu entgehen. Quellen der „NG“ aus dem Verwaltungsgebiet Rowno berichten beispielsweise, dass sich Männer fast dorfweise vor einer Mobilmachung in den Wäldern verstecken. Und in den Städten würden sich die Männer unter Ausnutzung des Rechts auf die Unantastbarkeit des Wohnraums schlicht und einfach in den Wohnungen verbergen. „Man kann sie durch keinerlei Razzien fassen, da sie nicht auf die Straße gehen“, berichtete der „NG“ ein Einwohner aus dem Verwaltungsgebiet Winniza, der anonym bleiben wollte.

In den sozialen Netzwerken veröffentlicht man letzte Nachrichten darüber, dass die Behörden in einer Reihe von Regionen den Vorsitzenden der Vereinigungen von Mitinhabern von Wohnblöcken angewiesen hätten, sie unbedingt und „unverzüglich“ über alle real in den Gebäuden lebenden Personen zu informieren. Am aktivsten werden solche Forderungen im Karpatengebiet und im Verwaltungsgebiet Charkow gestellt.

„In der Ukraine ist der Vorrat an Mobilisierungsressourcen bei weitem noch nicht ausgeschöpft worden“, ist sich General Netktaschjow sicher. „Laut offiziellen statistischen Angaben für das Jahr 2013 haben im Land rund 15 Millionen Männer im Alter von 15 bis 64 Jahren gelebt. Die Ereignisse von 2014, aber auch der Beginn der militärischen Sonderoperation haben natürlich ihre Korrekturen an diesen Zahlen vorgenommen. Ich irre mich aber nicht, wenn ich sagen werde, dass das Mobilmachungspotenzial der Männer in der Ukraine im Alter von 18 bis 60 Jahren auf dem Stand von mindestens fünf Millionen Menschen liegt. Und dies bedeutet, dass der Widerstand der Ukraine, den alle NATO-Länder unterstützen, ein noch sehr langer sein kann. Und daher lässt sich Selenskij offensichtlich nicht auf Verhandlungen ein“, betonte er.

Die Schlussfolgerungen von Netkatschjow bestätigt in gewisser Weise auch der Chef der britischen Militäraufklärung, James Richard Hockenhull, der erklärte, dass es in der Ukraine „in diesem Jahr keinen Sinn macht, offenkundige Erfolge einer der gegenüberstehenden Seite zu erwarten“. In einer Reihe ukrainischer Medien wird berichtet, dass der britische Geheimdienst MI-6 Kiew Daten darüber übermittelt habe, dass Moskau angeblich „Schläge gegen Dnepr-Brücken vorbereitet, um die Verlegung der aus dem Westen eintreffenden Gefechtstechnik, Munition und Waffen an die Ostfront zu erschweren“. Dass Moskau zu einer derartigen Entscheidung neigt, kann auch eine Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums indirekt belegen, wonach „sich entsprechend den Lieferungen von weitreichenden Waffen an die Ukraine die „geografischen Aufgaben“ der Militäroperation erweitern werden“.