Jewgenij Kamenkowitsch hat eine Inszenierung entsprechend dem Roman besorgt, der sich aufgrund seiner künstlerischen Besonderheiten schwer inszenieren lässt, und das Genre definiert, indem er die Worte aus dem Tagebuch des Haupthelden umformulierte: „Das „Spielen von Menschen“ nach Motiven des gleichnamigen Romans von Boris Pasternak in drei Teilen, das aus Prosa, Versen und anderen Kleinigkeiten besteht, inspiriert durch das Bewusstsein, dass die Hälfte der Menschen aufgehört hat, ihrer selbst zu sein und nicht weiß, was sie spielen“. Der Regisseur hat sich behutsam gegenüber dem Text verhalten und die Philosophie des Schriftstellers bewahrt. Einige Episoden, die durch eine dritte Person vermittelt wurden, werden durch hinzugefügte Dialoge erschlossen. Und Verse von Jurij Andrejewitsch (Schiwago) erklingen ab den ersten Minuten, wobei sie die zeitlose Bedeutung der einen oder anderen Ereignisse in seinem Leben ausleuchten. Nicht umsonst ist das wichtigste gedankliche Detail der Inszenierung ein in der Luft hängendes poetisches Heft.
Die Aufführung erfolgt auf einer praktisch leeren Bühne. Und der Handlungsort wird durch Striche markiert. Der Prolog verbindet zwei simultane Szenen. In der Finsternis beeilen sich die Heiligen Drei Könige, um sich vor dem Christuskind zu verneigen. Sie lesen die Geschichte vom Weihnachtsstern, wobei sie gegen einen Schneesturm anschreien, und empfangen einen Beisetzungszug. Das Wesen des Konflikts besteht im Aufeinanderprallen von Leben und Tod, der hier zu einer einzelnen handelnden Person geworden ist. Wenn für die Helden die Zeit zum Sterben kommt, taucht er in Gestalt einer großen grauhaarigen Frau auf und holt sie sich hinter einen schwarzen Vorhang. Unter den Menschen, die das „In ewiger Erinnerung“ singen, hinkt der verwirrte kleine Junge Jura Schiwago hinterher, wobei er in einem dämmernden Zustand wiederholt: „Ma-ama“. Ihm steht auch die Arbeit „zur konsequenten Enträtselung des Todes und dessen künftigen Überwindung“ bevor.
Das schwierigste für die Schauspieler ist, die Charakter zu offenbaren, denn im Roman sind fast gar nicht durchgezeichnet worden. Dennoch aber sind einige Konturen recht deutlich auszumachen. Iwan Wakulenko in der Rolle von Jurij Schiwago ist ein hundertprozentiger Volltreffer hinsichtlich der Gestaltung der Figur. Der willenlose und verträumte Doktor, buchstäblich nicht von dieser Welt, beobachtet, wie andere den Erdball neu aufteilen. Man holt ihn in den Ersten Weltkrieg, später flieht er zusammen mit der Familie aus dem hungernden Moskau in den Ural, wo er bald in eine Partisaneneinheit gerät. Das Spielen Wakulenkos verstärkt die Parallele Pasternaks zwischen Schiwago und Christus. Der Schauspieler verleiht dem Helden Demut und eine leichte Entrücktheit.
Im Verlauf von fünf Stunden sieht der Zuschauer beinahe vier Dutzend Personen. Da möchte man gern Karen Badalow in der Figur des Anwalts Komarowskij und Jurij Titow, der Pawel Antipow darstellt, aber auch alle Mimen, die mehrere Rollen spielen, hervorheben: Rifat Aljautdinow, Alexander Morowow, Weniamin Krasnjanskij, Nikita Tjunin, Iwan Werchowych, Wladimir Swirskij, Polina Kutepowa und besonders Daria Konyschewa und die junge Warwara Jegipzewa. Über die Interpretation der Frauenfiguren kann man streiten. Lara in einer Darstellung der Debütantin Olga Bodrowa kommt als einen jungenhaft freche daher. Ja, hinter dieser vorgetäuschten Dreistigkeit ist eine tiefe Exaltiertheit auszumachen. Pasternak aber hatte seine Heldin als eine Verkörperung reiner Weiblichkeit konzipiert. Darüber spricht auch der Doktor. In ihrer Beziehung zu Jurij sind keine Zärtlichkeit und Fürsorge zu spüren, so als würde sie sich genieren, eine verletzbare, eine zerbrechliche zu sein. Und daher spricht sie vorsätzlich mit einer lauten, etwas tiefen Stimme, wobei sie ihre Unabhängigkeit demonstriert. Das Agieren der Schauspielerin ist auf seine Art und Weise überzeugend, es scheint aber, dass es ihrer Lara an seelischer Subtilität mangelt. Die Deutung der Tonia-Figur, die durch Jekaterina Smirnowa offeriert wird, ist auch mehrdeutig. Die übermäßige Emotionalität passt nicht zu einem Mädchen, das im Haus eines Moskauer Intellektuellen erzogen worden ist. Jedoch hat auch eine derartige Deutung ein Existenzrecht. Möglicherweise ist Tonia einfach genauso eine unmittelbare wie in den Gymnasialjahren geblieben.
Mehrmals versucht der Tod, den Doktor dorthin zu ziehen, wo nur Rauch aufsteigt und ein grelles übernatürliches Licht leuchtet. Jurij Andrejewitsch, der aus der Partisaneneinheit von Liberij Mikulitsyn flieht, redet aufgrund von Müdigkeit und Hunger irre herum. In diesem Moment spricht er die Worte des gekreuzigten Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. In der Inszenierung gibt es keine Heldin mit dem Namen Sima Tunzewa, denn das Verzeichnis der handelnden Personen kann nicht so groß sein, wie bei Pasternak. Im Roman stammen jedoch von ihr die sehr wichtigen Worte, warum man am Vorabend des Osterfestes an Maria Magdalena erinnert: „Ich weiß nicht um die Ursache, doch die Erinnerung daran, dass das Leben so etwas ist, ist so zeitgemäß im Augenblick des Abschieds von ihm und am Vorabend seiner Rückkehr“. Diesen Gedanken brachte der Regisseur mit der Sprache der Bühne zum Ausdruck. Eine der eindringlichsten Momente ist die Rückkehr des Doktors aus der Vergessenheit. Ausgezehrt nach der schweren Krankheit legt er sich auf die Knie Laras, seiner Geliebten, und kommt langsam zu Bewusstsein. Die visuelle Ähnlichkeit mit der Abnahme Jesu vom Kreuz wird dadurch unterstrich, dass Schiwago nur mit einem Lendenschurz bekleidet ist. Zu zweit sitzen sie auf einem Teppich, dem bescheidenen Hochzeitsgeschenk von Larissa Fjodorowna. Dies ist ein Symbol für ein stilles Familienleben, von dem sie so geträumt hatte und dass sie nie wieder zu sehen bekommen wird. Wie bezeichnend ist es doch, dass sich der nach Warykino gekommene Komarowskij auf ihn schlafen legt.
Die großangelegte künstlerische Aussage von Jewgenij Kamenkowitsch endet damit, dass der Tod nicht aus den Händen von Jurijs Bruder das Heft mit den Gedichten reißen und es in die Vergessenheit mitnehmen kann, schließlich ist „Talent im höchsten und weitesten Sinn eine Gabe des Lebens“. Die Poesie schenkte Doktor Schiwago Unsterblichkeit.